Zahlbadern
Von frederic am 08 Nov 2011 | Tresenmonologe
Man kann jetzt in einem schönen Diagramm nachvollziehen, wie oft Mario Gomez in welchem Spiel über welchen Teil des Rasens spaziert ist. Zum Beispiel bei SpOn. Das gibts jetzt schon länger, seit Anfang der Saison. Da haben mich auch einige enthusiastische Mails erreicht, die diesen „Meilenstein“ feiern, der Durchbruch der Grafik im Fußballjournalismus. Alle haben sich gefreut. Ich nicht.
Ich weiß nicht, was ich mit dieser Information anfangen soll. Das ist auch bloß eine dieser Statistiken, mit denen man die Seite vollmacht, die aber ohne Erklärung sinnlos dastehen wie ein einzelner Zaunpfahl. Ein weiterer Versuch, sich auf die mathematische Tour an den Fußball heranzurobben, nach all den Statistiken und Zahlenspielen, die seit der ran-Datenbank das Spiel überfluten, und über die oft, allzuoft geklagt wurde.
Ich habe die Leute dann gefragt, was genau an diesen Statistiken interessant ist, was man eigentlich darin sieht. Naja, wo sie halt auf dem Spielfeld gestanden haben, sagten manche. Gut, antwortete ich, aber wenn ich das Spiel nicht gesehen habe, hilft mir diese Statistik kein bisschen, und wenn ich es gesehen habe, weiß ich doch, wie sie da gestanden haben, in den wichtigen Situationen zumindest. Da brauch ich doch keine Statistik für. Zugegeben, die sind schick aufbereitet ist, aber bloß weil ein Pudel die Haare lila hat, ist er noch lang kein Auto, mit dem man einkaufen fahren kann.
Claus-Peter Ortlieb: Inzwischen ist die mathematisch-naturwissenschaftliche Deutung der Dinge konkurrenzlos. Was nicht berechtigt ist.
brand eins: Warum?
Claus-Peter Ortlieb: Weil es natürlich ein Irrtum ist, zu glauben, man könne die gesamte Welt auf diese Weise erfassen.
Claus-Peter Ortlieb ist Mathematiker, Professor an der Uni in Hamburg. Das Interview erschien im gleichen brand eins-Heft wie ein sagenhaft uninteressantes Porträt über Uli Hoeneß, das mit einer ganzen Armada an Zahlen einsteigt, wie oft Deutscher Meister, wie viel Umsatz, Zuschauerschnitt, Sponsorengelder, und so weiter, und so weiter. Ansonsten steht nur drin, dass Hoeneß findet, eine Krankenschwester trage mehr zur Volkswirtschaft bei als ein Spekulant, und dass er Spekulation insgesamt verbieten würde. Ja, na gut, finde ich auch. Ich hätte aber ganz gern was über Uli Hoeneß gelesen, wenn Uli Hoeneß drübersteht, und nicht über Krankenschwestern. Und bitte bloß keine Zahlen mehr.
Es gibt einen wahnwitzigen Zahlenfetisch im Fußball. Die ganzen Zahlen, die Prognosen untermauern sollen! Lautern auf Schalke seit so und so vieler Zeit ohne Punkte. Ja, und? Köln ist auswärts bei Manchester City seit über 100 Jahren unbesiegt. Heißt das, dass Mancini jeden Tag vor dem Schlafengehen betet, Solbakken möge der Blitz beim Scheißen treffen, damit er einmal gegen Kölle zu Hause siegreich bleibt, und ihm anschließend die Fans ein Reiterstandbild aus Kronkorken bauen?
brand eins: Wie groß ist die Macht der Zahlen?
Claus-Peter Ortlieb: Sie sind extrem mächtig, moderne Menschen sind zahlengläubig ud über Zahlen sehr leicht manipulierbar. Zahlen verkörpern schlichte Objektivität, sie verselbstständigen sich leicht und werden dadurch schnell zum Fetisch.
Allein schon die Torjägerliste. Es ist nicht so, dass Tore nichts über einen Stürmer aussagen. Aber sie sagen zu wenig. Man stellt ihnen eine Frage, und sie wissen nicht weiter. Wieso gelten Tore als brauchbare Größe? Wäre es nicht sinnvoller, wenn man schon mal dabei ist, einen Koeffizienten zu errechnen? Am Beispiel des Müllerschen 40-Tore-Rekords: in der Saison, als Gerd Müller 40 mal traf, fielen insgesamt 1045 Tore. Müller machte also 3,8 Prozent aller Tore, was immer noch sehr wenig über seine Leistung aussagt, aber immerhin der Tatsache Rechnung trägt, dass inzwischen gut 150 Tore weniger die Saison fallen. Natürlich müsste da noch rein, wie viele Spiele Müller gemacht hat, oder aber wie viele Chancen er pro Tor gebraucht hat, und da wirds schon wieder kompliziert: denn wie bewertet man eine Chance? Die Unmöglichkeit, eine Chance angemessen zu bewerten wird ja bereits im Terminus „100prozentige“ klar, denn, wie mir einmal ein achtjähriger Fußballexperte erklärte, den man meinetwegen gerne statt Hartmann ins Fernsehen setzen könnte: 100prozentig ist eine Chance nur dann, wenns auch ein Tor ist.
brand eins: Die Welt bleibt also unberechenbar?
Claus-Peter Ortlieb: Selbstverständlich bleibt sie das. Das bedeutet nicht, dass der mathematische Blick auf die Welt per se Blödsinn ist, ganz im Gegenteil: Er ist eine echte Erfolgsgeschichte, und wir verdanken ihm viele Erkentnisse, unsere gesamte wissenschaftliche und technische Entwicklung und die Art, wie wir heute leben. Doch die Erfolgsgeschichte ist gleichzeitig das Problem. Denn aus ihr entsteht nicht nur die Illusion zu glauben, man könne alles auf diese Weise erfassen und entschlüsseln, sondern man gerät durch diese Illusion auch noch in den Zwang, die Welt in diese Form zu pressen.
Es gibt inzwischen diese beiden Tendenzen: einerseits werden die Berichte über Fußballspiele subjektiver, andererseits versucht man mit Zahlenmaterial schicke Grafiken zu machen. Ersteres finde ich beklatschenswert, zweiteres kommt mir häufig so vor, als würde man die Werke der Weltliteratur zu bewerten versuchen, indem man zählt, wie viele Kommata in ihnen vorkommen. Das ist meistens müßig, fast immer sinnlos, und vor allem: wahnsinnig uninspiriert.
ich glaube das beide tendenzen den versuch einer amerikanisierung des hiesigen sportjournalismus darstellen. warum man das versucht verrät mir der geier auch auf nachfrage nicht.
vielleicht empfinden einige der herren sportchefredakteure einen drang mit den wirtschaftsjournalisten gleichzuziehen die so sehr an wichtigkeit und einfluß gewannen im letzten jahrzehnt.
vielleicht will man mit diesem gimmick nur zeilen schinden oder findet es einfach cool wie das beim baseball oder basketball so klingt auf cnn.
vielleicht soll die zahlenbeilage zur phrasenschweinhaxe aber auch nur einen sportjournalismus aufpeppen der zu mehr als suggestivfragen nicht mehr in der lage ist. (manchmal bedaure ich nicht fußballprofi geworden zu sein, allein um kathrin müller-hohlenstein und ihren kollegen einmal ein paar fragen zu ihrem berufsverständnis um die ohren zu hauen.)
die subjektivierung hingegen ist nahezu selbsterklärend — sport ist show und irgendwann als wir nicht dabei wahren wurde beschloßen das emotion pur ein wert an sich und immer gut sei.
emotion ist natürlich nur die gute geschäftsfördernde besinnungslos affirmative jubelperserei. kritik an kommerzialisierung, disneyfizierung, falschen fuffzigern und unterbelichtegestalten ist bäh.
Ich vermute auch, dass der Anstoß dafür aus den Staaten kommt (Biermann argumentiert das recht schlüssig in Fußball-Matrix). Aber das erklärt nicht, warum das hier auf derart fruchtbaren Boden fällt, gerade weil doch allen klar ist, dass mit solchen Zahlenspielen der Fußball viel schwieriger zu fassen ist als die amerikanischen Sportarten.
Ortlieb erklärt sich das, indem er sagt: Wir sind ein Volk von Rechenschwachen, deswegen lassen wir uns von Zahlen so schnell beeindrucken. Das würde erklären, warum Zahlen in der französischen Presse eine weniger durchschlagende Rolle spielen, denn die sind in der Mathematik schulisch auf einem weit höherem Niveau.
Mir gefällt allerdings Deine Erklärung ziemlich gut, dass der herrschende ökonomische Diskurs auch im Sport seine Metaphern streut.
Aber ich finde nicht, dass Subjektivierung allein Jubelperserei ist: man kann subjetkiv auch hervorragend schimpfen, im Grunde ist die Subjektivierung sehr subversiv, weil antiautoritär. Aber klar: es gibt leider zu wenige, die da ein paar Schlaglichter setzen.
Lieber Frederic,
vielen, vielen Dank für diese Zeilen! Du sprichst mir sowas von aus der Seele! Und das hier
„Köln ist auswärts bei Manchester City seit über 100 Jahren unbesiegt. Heißt das, dass Mancini jeden Tag vor dem Schlafengehen betet, Solbakken möge der Blitz beim Scheißen treffen, damit er einmal gegen Kölle zu Hause siegreich bleibt, und ihm anschließend die Fans ein Reiterstandbild aus Kronkorken bauen?“
sagt eigentlich alles (und führte dazu, dass ich beim Lesen laut gelacht habe, was, zumindest mir, eher selten vor einem Computermonitor passiert).
Viele Grüße
Wolfgang
Nachtrag: Aha, man kann also doch mit Zahlen poetisch sein.
Ich finde, das Gomez-Diagramm ist echte Kunst! Dafür musste ein zugeballerter Pinselheinrich früher stundenlang Erdbeertörtchen über die eigene Schulter hinweg gegen eine Leinwand schmeissen.
und anschließend draufurinieren!
Interessanterweise gibt es auch in der Zahlenweltmoden.
Während früher Ballbesitz die wichtigste Größe war, wurden es dann die richtig gespielten Pässe in % (Was natürlich einen Manuel Neuer deutlich schlechter dastehen ließ als z.B. Roman Weidenfeller). Mittlerweile geht der Trend halt in Richtung Laufdistanz. Doch was hat mein Team davon, wenn der Außenverteidiger sich immer mal als Lahm versucht, nach vorne läuft, dort den Ball verliert/ im Abseits steht/ den Pass nicht kriegt und dann riesige Lücken aufreißt?
in der Zahlenwelt Moden, latürnich. Sorry.
Und bei Fußballfans. Die Torjägerliste sage zu wenig aus, okay. Verzichtet man eben öfter mal auf sie. Aber nein, Koeffizienten berechnen, Relationen berücksichtigen, Chancen definieren. Wir machen uns eine bessere Statistik. Warum eigentlich?
Weil das Spaß macht.
Durchaus neuerungsskeptische Fußballblogger produzieren haufenweise Bestenlisten, Infografiken, Crossover-Statistiken, die teils genial, teils komplett abwegig sind.
Weil es Spaß macht. Ein sehr komplexes Spiel in Zahlen zu zwängen und zu zwingen. Zugängliches Rohmaterial mit eleganten Werkzeugen in hübsche und nützliche Übersichten zu verwandeln. Das gelingt nicht immer, wird aber immer wieder versucht werden.
Weil es geht.
Es hätte vor 40 Jahren schon Heatmaps im Kicker gegeben, hätte es sie denn gegeben. Die lächerlichen Laufwege hätten schon die Beiwohner des Wunder von Berns interessiert, hätte die Auswertung vorgelegen. (Lustigerweise benutzt ja kaum noch jemand Laufwegestatistiken, ohne relativierend-ironisch hinzuzufügen, dass so Laufwege alleine ja wenig aussagen.)
Ich habe den Biermann nicht gelesen. Aber den „derart fruchtbaren Boden“ kann ich nicht erkennen. Nicht im Sinne von: übermäßig viele, übermäßig unsinnige Statistik. Zumindest zwar mehr, aber eben nicht viel mehr als schon immer. Man kann Amerika viel zuschieben, das innige Verhältnis von Fußball und Zahlen hierzulande gehört nicht dazu.
Du bringst die Beispiele Heatmap bei SpOn und Vereins-Bilanz. Büschen dürftig. Der sogenannte Castrolindex hat die Möglichkeiten bei der EM 2008 mit Aktionsradius, Schusshärte und Spielerhöchstgeschwindigkeit ziemlich auf die Spitze geführt. Mittlerweile verrühren sie die einzelnen Größen zu einem Spieler-Ranking.
Das ist uninspiriert, wohl wahr. Dieser Köln-Manchester-Schwachfug ist aber den Aufbereitern, Auswählern und Überbringern anzulasten, nicht den Zahlen. Die sind, finde ich, gut aufbereitet, ausgewählt und eingesetzt in der Fußball-Berichterstattung sinnvoller als so mancher total subjektiver, ellenlanger, mühsam herbeigedrechselter „Ich will vor allem Fußballjournalistenklischees vermeiden“-Alternativfußballtext.
Mensch, Du musst Dich ja ganz schön geärgert haben. Aber ich freu mich ja, in einem Kommentar (zu Recht!) totale Subjektivität angekreidet zu bekommen, gleichzeitig aber als Verteidigung der Zahlen kein Argument zu lesen, sondern den wahrscheinlich subjektivste Refrain, den es gibt:
Weil es Spaß macht. Weil es geht.
Andererseits bin ich völlig Deiner Meinung, wenn Du schreibst: „Dieser Köln-Manchester-Schwachfug ist aber den Aufbereitern, Auswählern und Überbringern anzulasten, nicht den Zahlen.“ Aber ich gebe zu bedenken: Hätte ich das noch weiter ausdifferenziert, hättest Du noch zwei Absätze mehr lesen müssen!
[…] Sagt Frederic Valin. Und ich kommentierte. Es gibt einen wahnwitzigen Zahlenfetisch im Fußball. […]
Ich hätte auch noch vier weitere gelesen. Und warum soll ich mich geärgert haben? Weil ich einen langen Kommentar geschrieben habe?
Ich habe dir gar nichts angekreidet, schon gar nicht Subjektivität. Auch Zahlen können subjektiv sein. Ich habe auch nicht „Zahlen verteidigt“, sondern gefunden, dass die Herleitung nicht greift und die Kritik zu pauschal bleibt, um die wirklich fiese Überinformation punktgenau zu treffen.
Denn Anprangerungen überflüssigen Quatsches kann es gar nicht zu viele geben.
Dann habe ich das missverstanden. Ich hatte den Eindruck, dass Du am Ende ein wenig persönlich geworden bist, und in der Regel passiert sowas, wenn sich ein Kommentator ärgert und zurückärgern will.
Ich hab nichts insgesamt gegen Zahlen, aber ich glaube trotzdem, die Kritik müsste noch pauschaler werden, denn ich glaube (wie Ortlieb), dass sie Objektivität suggerieren und Wirklichkeit hervorbringen: also Teil einer Ideologie sind. Das finde ich spannend.
(Okay, ich jetzt glaube ich zu verstehen. Zur Klarstellung: Meinen letzten Satz habe ich mitnichten auf diesen Text gemünzt sondern auf deine Unterscheidung subjektiv schreiben = gut, Zahlenfetisch = schlecht.)
Achso! Ich hatte mich schon gewundert.
Ich ärgere mich tierisch über diese Schmalspurentschuldigung für Datenanalyse die da gerade bei SpOn grassiert. Besonders, weil ich weiß, dass
a) es im Haus eigens frisch eingekaufte Spezialisten gibt, die diesen neuen Trend des Datenjournalismus und Onlinetechniktrickserei und Visualisierung umsetzen sollen.
b) es auch im Fußball sinnvolle Verwendung von Zahlenmaterial gibt, die Sportredaktion aber offensichtlich keinerlei Bedarf sieht, sich ihrerseits mit ein wenig Expertise zu verstärken.
Also Frederik, nicht über den Zahlenfetisch schimpfen, der sorgt nämlich dafür, dass Bundesligaspiele heute aussehen, wie 50er Fußball im Zeitraffer. Wenn es zum Beispiel darum geht, Trainingssteuerung zu individualisieren, dann brauchst du diese Daten.
Und so verrückt das für Ascheplatznachweiner klingen mag: Es gibt auch Leute, die mit sinnvollen (!) Daten und Taktik und dem ganzen neumodischen Kram eine völlig neue Dimension des Fußballgenusses für sich entdecken. Nur der Spiegel, der vielleicht ahnt, dass es solche Leute gibt und deren Interessen bedienen will, der ist gerade kein Vorbild. Höchstens im negativen Sinne: Immerhin weiß ich dank der Heatmap, dass der Torwart sich die meiste Zeit in seinem Strafraum aufgehalten hat. No shit, Sherlock!
MilanLab und Konsorten haben das Spiel sicher schneller gemacht, enger auch, intensiver. Aber besser, das weiß ich nicht. Ich bin sicher kein Ascheplatznachweiner, dazu hab ich selbst zu oft auf Erde gespielt, fürchterlich. Aber trotzdem, da steht eine Zukunftsvision mit in den Zahlen eingeschrieben, die sagt: je mehr Daten, desto besser wird alles.
Diese Mathematisierung hat den englischen Fußball ruiniert, wo einer mal errechnet hat, man müsse perfekterweise mit drei bis fünf Pässen zum Abschluß kommen. Jahrelang haben sie so gespielt, bis sich herausgestellt hat: verdammt, in den Statistiken wurde gepfuscht. Aber selbst wenn es diesen Pfusch nicht gibt, und wir davon ausgehen, die Daten sind sauber und lassen eindeutige Rückschlüsse zu: dann kommts zum Akerlofschen Rattenrennen. Dann werden alle besser, und damit im Verhältnis keiner.
(Is gerade ein bisschen unausgegoren, hab leider nicht mehr Zeit, das ausführlicher aufzuschreiben.)
[…] Frederic, der auf zumblondenengel.de bloggt, hat neulich etwas festgestellt: […]