Man kann jetzt in einem schönen Diagramm nachvollziehen, wie oft Mario Gomez in welchem Spiel über welchen Teil des Rasens spaziert ist. Zum Beispiel bei SpOn. Das gibts jetzt schon länger, seit Anfang der Saison. Da haben mich auch einige enthusiastische Mails erreicht, die diesen „Meilenstein“ feiern, der Durchbruch der Grafik im Fußballjournalismus. Alle haben sich gefreut. Ich nicht.

Ich weiß nicht, was ich mit dieser Information anfangen soll. Das ist auch bloß eine dieser Statistiken, mit denen man die Seite vollmacht, die aber ohne Erklärung sinnlos dastehen wie ein einzelner Zaunpfahl. Ein weiterer Versuch, sich auf die mathematische Tour an den Fußball heranzurobben, nach all den Statistiken und Zahlenspielen, die seit der ran-Datenbank das Spiel überfluten, und über die oft, allzuoft geklagt wurde.

Ich habe die Leute dann gefragt, was genau an diesen Statistiken interessant ist, was man eigentlich darin sieht. Naja, wo sie halt auf dem Spielfeld gestanden haben, sagten manche. Gut, antwortete ich, aber wenn ich das Spiel nicht gesehen habe, hilft mir diese Statistik kein bisschen, und wenn ich es gesehen habe, weiß ich doch, wie sie da gestanden haben, in den wichtigen Situationen zumindest. Da brauch ich doch keine Statistik für. Zugegeben, die sind schick aufbereitet ist, aber bloß weil ein Pudel die Haare lila hat, ist er noch lang kein Auto, mit dem man einkaufen fahren kann.

Claus-Peter Ortlieb: Inzwischen ist die mathematisch-naturwissenschaftliche Deutung der Dinge konkurrenzlos. Was nicht berechtigt ist.
brand eins: Warum?
Claus-Peter Ortlieb: Weil es natürlich ein Irrtum ist, zu glauben, man könne die gesamte Welt auf diese Weise erfassen.

Claus-Peter Ortlieb ist Mathematiker, Professor an der Uni in Hamburg. Das Interview erschien im gleichen brand eins-Heft wie ein sagenhaft uninteressantes Porträt über Uli Hoeneß, das mit einer ganzen Armada an Zahlen einsteigt, wie oft Deutscher Meister, wie viel Umsatz, Zuschauerschnitt, Sponsorengelder, und so weiter, und so weiter. Ansonsten steht nur drin, dass Hoeneß findet, eine Krankenschwester trage mehr zur Volkswirtschaft bei als ein Spekulant, und dass er Spekulation insgesamt verbieten würde. Ja, na gut, finde ich auch. Ich hätte aber ganz gern was über Uli Hoeneß gelesen, wenn Uli Hoeneß drübersteht, und nicht über Krankenschwestern. Und bitte bloß keine Zahlen mehr.

Es gibt einen wahnwitzigen Zahlenfetisch im Fußball. Die ganzen Zahlen, die Prognosen untermauern sollen! Lautern auf Schalke seit so und so vieler Zeit ohne Punkte. Ja, und? Köln ist auswärts bei Manchester City seit über 100 Jahren unbesiegt. Heißt das, dass Mancini jeden Tag vor dem Schlafengehen betet, Solbakken möge der Blitz beim Scheißen treffen, damit er einmal gegen Kölle zu Hause siegreich bleibt, und ihm anschließend die Fans ein Reiterstandbild aus Kronkorken bauen?

brand eins: Wie groß ist die Macht der Zahlen?
Claus-Peter Ortlieb: Sie sind extrem mächtig, moderne Menschen sind zahlengläubig ud über Zahlen sehr leicht manipulierbar. Zahlen verkörpern schlichte Objektivität, sie verselbstständigen sich leicht und werden dadurch schnell zum Fetisch.

Allein schon die Torjägerliste. Es ist nicht so, dass Tore nichts über einen Stürmer aussagen. Aber sie sagen zu wenig. Man stellt ihnen eine Frage, und sie wissen nicht weiter. Wieso gelten Tore als brauchbare Größe? Wäre es nicht sinnvoller, wenn man schon mal dabei ist, einen Koeffizienten zu errechnen? Am Beispiel des Müllerschen 40-Tore-Rekords: in der Saison, als Gerd Müller 40 mal traf, fielen insgesamt 1045 Tore. Müller machte also 3,8 Prozent aller Tore, was immer noch sehr wenig über seine Leistung aussagt, aber immerhin der Tatsache Rechnung trägt, dass inzwischen gut 150 Tore weniger die Saison fallen. Natürlich müsste da noch rein, wie viele Spiele Müller gemacht hat, oder aber wie viele Chancen er pro Tor gebraucht hat, und da wirds schon wieder kompliziert: denn wie bewertet man eine Chance? Die Unmöglichkeit, eine Chance angemessen zu bewerten wird ja bereits im Terminus „100prozentige“ klar, denn, wie mir einmal ein achtjähriger Fußballexperte erklärte, den man meinetwegen gerne statt Hartmann ins Fernsehen setzen könnte: 100prozentig ist eine Chance nur dann, wenns auch ein Tor ist.

brand eins: Die Welt bleibt also unberechenbar?
Claus-Peter Ortlieb: Selbstverständlich bleibt sie das. Das bedeutet nicht, dass der mathematische Blick auf die Welt per se Blödsinn ist, ganz im Gegenteil: Er ist eine echte Erfolgsgeschichte, und wir verdanken ihm viele Erkentnisse, unsere gesamte wissenschaftliche und technische Entwicklung und die Art, wie wir heute leben. Doch die Erfolgsgeschichte ist gleichzeitig das Problem. Denn aus ihr entsteht nicht nur die Illusion zu glauben, man könne alles auf diese Weise erfassen und entschlüsseln, sondern man gerät durch diese Illusion auch noch in den Zwang, die Welt in diese Form zu pressen.

Es gibt inzwischen diese beiden Tendenzen: einerseits werden die Berichte über Fußballspiele subjektiver, andererseits versucht man mit Zahlenmaterial schicke Grafiken zu machen. Ersteres finde ich beklatschenswert, zweiteres kommt mir häufig so vor, als würde man die Werke der Weltliteratur zu bewerten versuchen, indem man zählt, wie viele Kommata in ihnen vorkommen. Das ist meistens müßig, fast immer sinnlos, und vor allem: wahnsinnig uninspiriert.