Achtelfinal-Schnitzel
Von frederic am 02 Jul 2014 | Cachaça
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Von geringerem Leistungsgefälle zu reden verzerrt das Bild dieser WM. Es stimmt schon, den Gegner über das komplette Spiel dominiert hat im Achtelfinale nur Kolumbien; trotzdem hat sich in allen Spielen die erkennbar stärkere Mannschaft durchgesetzt.
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Wahrscheinlich ist für die Wahrnehmungsverzerrung das Konzept „Favorit“ verantwortlich; ein Wort, das ja selten ohne den Zusatz „auf dem Papier“ auskommt. Schwer zu begreifen, warum das nach wie vor ein so wichtiger Moment in der Beurteilung ist; jeder kann das Spiel doch sehen und daraus Schlüsse ziehen. Wenn mir ein Kommentator erklärt, was alles auf dem Papier steht, dann kann ich nur nicken und sagen: Das hat der alles gelesen, dafür ein Fleißbienchen. Aber es interessiert mich nicht, betrifft das Spiel auch nicht und hilft auch nicht beim Verständnis des Spiels. Eine Favoritenrolle ist eine (meist von außen herangetragene) Anspruchshaltung einer Mannschaft, die künstlich Fallhöhen erzeugen soll; eine Hilfskonstruktion für Ahnungslose.
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Die aber auch der nationalen Selbstüberhöhung dient. Die Selbstverständlichkeit, mit der man hierzulande davon ausging, Algerien einfach mal wegzuhauen, bloß weil kein Kickerleser auch nur einen Namen in deren Aufstellung kannte: das ist Großmannssucht. Wie man nicht sehen konnte, dass die Taktik – so unansehnlich sie auch war – nach 60 Minuten zu greifen begann und Algerien von da an nur noch hätte gewinnen können, wenn sie einen Streitwagenfahrer eingewechselt hätten, das bleibt mir unbegreiflich.
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(Ich habe auch den Eindruck, dass es in den Kneipen, in denen ich verkehre, ein Muster gibt: Spielt Deutschland gut, war Kroos überragend. Spielt Deutschland schlecht, war Özil unter aller Sau.)
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Auffällig finde ich die Unfähigkeit oder vielleicht auch den Unwillen der Trainer, sich auf den jeweiligen Gegner einzustellen. Dass nun die meisten Ausscheidungsspiele spät entschieden wurden, könnte man natürlich auf ein geschrumpftes Leistungsgefälle zurückführen („’Es gibt keine Kleinen mehr‘ für fünfhundert, bitte.“) Tatsächlich aber scheinen sich alle Trainer der talentierteren Mannschaften darauf verlassen zu haben, aber Ende über die bessere Physis zu verfügen; es ist eher ihrer Risikoscheu zuzuschreiben, ihrer Angst, das die Spiele enger aussehen ließ, als sie tatsächlich waren.
Man ist natürlich verwöhnt, wenn man einem Trainer wie Tuchel Woche für Woche dabei zusehend darf, wie er gegnerische Systeme seziert und Lösungen findet, die Abendgarderobenqualität haben. Da hört man nicht gerne, wenn die anderen immer wieder betonen, für die Mannschaft sei das Spiel „ein hartes Stück Arbeit“ gewesen; dass dem so war, konnte man ja sehen. Warum das so sein muss, warum man der Mannschaft diese Arbeit aufbürdet, verstehe ich nicht.
Der größte Fehlgriff in der Hinsicht war sicherlich Giroud, der da im Sturm herumturnte, als hätte er sich von einem Schlag auf den Hinterkopf noch nicht recht erholt. Der arme Mann, wenn er vorne stand, bekam er keine Bälle, und wenn er sie sich weiter hinten abholen kommen wollte, wurden sie in die verwaiste Spitze durchgesteckt. Warum das nicht nach 30 Minuten korrigieren?
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Das nächste Mal mit Griezmann. Ich bin ganz guten Mutes.
Punkt 3 und 5 hängen zusammen, man erwartet einfach das Löw die Mannschaft auf Algerien optimal einstellt und notfalls kurzfristig entsprechende Anpassungen vornimmt. Das da wieder mit zwei unpassenden Außenverteidigern gespielt wird, geht einfach in meinen Kopf nicht rein, so dass ich mich bei Mustafis Verletzung fast etwas gefreut habe.
Jetzt hoffen wir mal, dass Frankreich am Freitag wieder so daneben greift und die Eistonne Wirkung zeigt.
Thomas Tuchel wird ja auch nach der WM Bundestrainer. Dann wird alles gut. Denkt an meine Worte.
Ich dachte Jupp Heynckes? Oder doch der Ottmar?
Sammer. Denkt an meine Worte.
Peter Neururer. Mindestens als Experte für Standardsituationen.
Ich hatte eine unglückliche Kindheit. Ständig wollte sich jemand umbringen.
Da bleiben grundsätzlich zwei Optionen: Fußball oder Religion.
Da meine Eltern aus der Kirche ausgetreten waren, schickten sie mich in den Fußballverein. BSV Bielstein, der Platz lag direkt neben dem Freibad, und im Sommer roch es immer nach frischen Fritten und Sonnencreme. Wir trugen langärmige Trikots aus Baumwolle, mit dunkelblauer Brust und gelben Armen. Das waren die Vereinsfarben. Auf einem Foto, ich bin etwa 8 oder 9 Jahre alt, halte ich einen Pokal in der Hand und trage das blau-gelbe, langärmige Trikot. Ich sitze zu hause bei meinen Eltern auf der zweituntersten Stufe des Treppenhauses, das das Wohnzimmer mit den oberen Stockwerken verbindet. Ich muss gerade von diesem Turnier zurück gekommen sein.
Später, in der A-Jugend, ich spielte mittlerweile für den TuS Wiehl, kamen wir als Kreispokalsieger in die erste Runde des Mittelrheinpokals. Bonner SC lautete das Los und wir hatten Heimrecht auf unserem Ascheplatz, der direkt neben den Baracken der Asylbewerber lag. Wir lagen früh mit 3:1 zurück. Es regnete und war kalt. Die Bonner müssen sich zu sicher gefühlt haben, irgendwann war der Anschlusstreffer da und plötzlich eine Freistossgelegenheit.
Mein Klassenkamerad Patrick, der kurze Zeit später bei einem Autounfall schwer am Kopf verletzt wurde und einige Jahre später starb, hatte als einziger von uns den Ehrgeiz gehabt, Freistöße zu trainieren. Das war sein großer Tag. 3:3.
Wir schieden im Elfmeterschießen aus, aber diesen Freistoßball, den hatte er sich schön zurechtgelegt.
Das ist ja schaurig. Und schön.
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