Eine gewisse Müdigkeit
Von frederic am 16 Jun 2014 | Cachaça
Ich gebe es ungern zu, aber gestern ist es mir dann doch aufgegangen, während ich abends auf einer Dachterrasse saß und mich nicht recht auf das Spiel konzentrieren konnte; ich komm nicht so gut rein in die WM. Nicht so gut wie in frühere Turniere.
Ich weiß nicht, woran es liegt. Ist es, weil ich die brasilianischen Proteste auch in dieser Schärfe für legitim halte, und gleichzeitig stundenlang Fußball kucken kann, ohne dass auch nur eine Information dazu aus dem Fernseher tropft? Ist es, weil das Wissen um die Korruptheit der FIFA sich wie Schleim über das Spiel gelegt hat? Weiß ich inzwischen zu viel über die Spieler, um mich mit ihnen identifizieren zu können, muss ich zu viel Aufwand betreiben, um sie von ihrer Beiografie zu lösen, um sie nur noch als Zeichen, Metaphern und Allegorien sehen zu können?
Möglicherweise. Wobei mich nichts so sehr nervt wie die Rahmenberichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen. Stundenlang kann man vor dem Fernseher sitzen und keinen Ton zu den Protesten hören. Stattdessen diese ekelhafte Selbstgefälligkeit, diese Deutschtümelei; zum Beispiel im Vorfeld des Italienspiels. Was mag wohl der Grund gewesen sein, stundenlang über Immobile zu reden; obwohl der nicht spielen würde, was jedem klar war, obwohl der während der WM nur dann eine Rolle spielen würde, wenn ein Hai Balotelli mindestens ein Bein abbeißt.
Man könnte das ja machen, random interessante Typen jenseits ihrer Relevanz für das Spiel vorzustellen, aber das war ja gar nicht die Absicht. Immobile war deswegen wichtig, weil er Dortmunds neuer Star werden soll; und Dortmund, der zweite der Bundesliga, muss ja wohl einen Star einkaufen. Ein Star, der aber gar nicht spielt, und da stellt sich dann schon die Frage: Warum nicht? Wegen Balotelli, der der viel größere Star ist (um Qualität und taktische Erwägungen geht es da ohnehin nicht). Und da muss man irgendwie auch klar machen, warum Immobile der viel bessere Spieler und Mensch und Charakter ist als Balotelli, der ja nun völlig unverständlicherweise spielt (besonders schön die Aussage Elbers, die Fans hätten auch lieber Immobile); wobei jedem, wenn man das Spiel gesehen hat, völlig klar ist, warum Balotelli spielt. Und das – Wahnsinnsfrechheit – obwohl der nicht in der Bundesliga spielt.
Sowas macht mich ausgesprochen müde; ähnlich wie die Lobeshymnen auf Brych, als würde man sich hierzulande für Schiedsrichter interessieren, wenn sie keine Fehler machen. Aber es ist ja ein Deutscher, da macht so eine Analyse natürlich Sinn.
Das ist mir alles viel zu verkrampft, viel zu lusttötend, viel zu unwesentlich. Ich hätte gern die Unschuld zurück, die das Spiel für mich zu etwas besonderem macht; und diese Unschuld, an der fressen gerade FIFA und Berichterstatter. Eine Unschuld, die inzwischen nur noch in Werbespots zelebriert wird.
Ich werde die nächsten beiden Spieltage unter netten Menschen verbringen, weswegen es hier auch keine Spielberichte direkt nach Abpfiff geben wird; ich hoffe sehr, dass mich das kurieren kann.
Mich hat die WM, und van Persie ist Schuld. Oder – ich weiß nicht, vielleicht auch Robben. Der schnellste Tusche-Kreisel aller Zeiten. Ansonsten hilft es, einfach die Stunde zwischen den Spielen zu meiden und in der Pause pullern zu gehen. Lange, sehr lange pullern zu gehen. Zwischen den Spieltagen lese ich den Ballesterer, die bloggen solche Texte: http://ballesterer.at/aktuell/im-land-der-widersprueche.html . Oder die vom Huck. Die ja sowieso. Und dann geht das eigentlich alles ziemlich gut. Ich entwickle ganz in Ruhe Standpunkte. Und Himmel, Fußball ist immer noch geil. (Aber vergiss die Franzosen.)
Es ist eine WM, bei der man sich wünscht, die Prstata wäre nicht in Ordnung.
Man kann daraus ja inzwischen ein Trinkspiel machen, immer einen heben, wenn bei einem Spieler erwähnt wird, dass er mal irgendwann, irgendwo in der Bundesliga gespielt hat.
Ich denke immer wer sich diese ganzen Spiele ohne deutsche Beteiligung teils spät nachts ansieht, der ist entweder Fan eines Teams oder schwer fußballbegeistert. Beide Gruppen brauchen kein „da spielt einer aus der Bundesliga“ und die öffentlich-rechtlichen Sender brauchen auch keine Quoten indem man sich an alles und jeden anbiedert.
Heute Abend lasse ich mir Deutschtümelei gefallen, aber doch bitte nicht bei Iran gegen Nigeria.
Wenn Du da ein Trinkspiel draus machst, siehst Du denn überhaupt noch eines der 0 Uhr spiele?
Diese Übertragungen werden nicht für dich oder mich gemacht, sondern für alle, die Fußball im zweijährigen Turnus zu großen Turnieren gucken. Ich meine das nicht abfällig, sondern einfach nur konstatierend. Unsere Vorberichterstattung findet im Internet statt. Ich bin in den letzten Tagen ab 17 Uhr mit dem Hund über’s Feld gegangen und war rechtzeitig zu den Hymnen zuhause, sofern die gespielt wurden. Ab 20 Uhr habe ich mir dann das Abendessen bereitet und den ersten Gin Tonic zusammengeschüttet. Um 21 Uhr gab es dann wieder bewegte Bilder vom Spiel. Nur für die Lücke zwischen 23 und 0 Uhr wusste ich noch keine perfekte Füllung.
Ich finde seit rund zehn Jahren keinen guten Grund mehr, über irgendeinen Teil des TV-Programms zu schimpfen, den man einfach ausschalten kann. Nur unter Kommentierung und Regie der Liveübertragungen leide ich noch gelegentlich. Den Rest hole ich mir dort, wo er mir besser gefällt.
Ich tu mich schwer, das schlicht zu ignorieren; dieser Nationalismus verschwindet ja nicht, bloß weil ich die Augen zumache. Ich verschiebe das Problem ja nur außerhalb meines Blickfelds.
[…] die Ignoranz gegenüber Inhalten im Allgemeinen und kleinere Nationen im Speziellen. Auch bei Frédéric Valin sorgt der öffentlich-rechtiche Rahmen mit für »eine gewisse Müdigkeit«. Dabei lohnt es sich […]
Ich hoffe aber doch, dass ich während dieser WM hier noch ein paar Beiträge zu lesen bekommen. Auch weiterhin gute Genesung der Hand.
[…] recht früh nach Beginn der WM machte der Literat Frédéric Valin diesbezüglich »eine gewisse Müdigkeit« bei sich aus und fasste seine Gefühle und Beobachtungen angenehm differenziert in […]