Die Stille nach dem Schuss
Von frederic am 01 Feb 2012 | Tresenmonologe
Warum, verdammt nochmal, war nur das Tor so klein? Das war mir früher nie so klein vorgekommen. Aber heute, gerade jetzt, hatte ich keine Ahnung, wo der Ball hinsollte.
8. Minute, Halbfinale, ein Schülerturnier. Wir spielten nach Klassen, alle vier Gymnasien der Stadt, insgesamt 16 Mannschaften, 10 Minuten pro Match. 2000 muss das gewesen sein, Kleinfeld, 5 gegen 5. Kleinfeld, das konnte ich, da haben sie mich immer hinten rechts hingestellt, damit ich das ganze Feld vor mir habe und machen kann, was ich will.
Im Verein war das nicht so, da gabs Begabtere als mich. Für das Großfeld haben mir immer Raumgefühl und Schussstärke gefehlt. Weil ich schnell und trickreich war, obendrein fies im Zweikampf, ein kleines, gemeines Wiesel, haben sie mich immer auf die Außenbahn gestellt. Da hab ich dann meine zehn, fünfzehn Tore pro Saison vorbereitet, aber kaum je selbst eins gemacht. Immer nur der Drehbuchschreiber gewesen, nie der Star. Mich hat das nicht gestört damals, es stört mich auch heute nicht, ich war nach den Spielen glücklicher, wenn mir einer auf die Schulter geklopft hat, und der Rest um Alex herumstand, der schon wieder drei Tore gemacht hatte, wie eigentlich immer.
Dass Johanna am Spielfeldrand stand, wusste ich schon. Bisher hatte ich das ausgeblendet bekommen: dass die Mädchen zusahen. Das kannte ich nicht, es waren nie Mädchen beim Fußball, es war eigentlich nie irgendwer beim Fußball, wenn wir spielten – wir waren 15 oder 16, da kamen noch nicht einmal mehr die Eltern. Wäre uns auch peinlich gewesen, war besser so, jeder Spieltag ein Geisterspiel.
Und jetzt: wahrscheinlich 100 Zuschauer. Klar, Halbfinale, da haben sie sich alle uns angesehen. Wir waren Favorit nach der Vorrunde, wir hatten das lässig runtergespielt, das jetzt war das erste Match, wos eng wurde: gegen die vom Wirtschaftsgymnasium, die waren alle breit wie Dampfwalzen, da war viel gesunde Härte im Spiel. Wir führten 1-0, Jan hatte vor zwei Minuten einen weiten Abwurf am Kreis direkt abgenommen, direkt ins Kurze, ein fantastisches Tor. Da waren die vom Wirtschaftsgymnasium böse geworden, seither traten sie ein bisschen fester zu. Vor allem Jan. Den hatten sie übel abgewürgt, schöne Scherengrätsche mit Anlauf, der Verteidiger musste anschließend ausgewechselt werden, wahrscheinlich Abreibungen bis auf den Oberschenkelknochen, so war der den Boden entlanggeschlittert. Ich kann noch heute das Ratschen hören, das seine Haut gemacht hat. War im Kreis gewesen, also neun Meter.
Jan wollte nicht, dem tat der Knöchel weh, also sollte ich. Ich hatte das noch nie gemacht. Eigentlich müsste man Vollspann halbhoch und hoffen, dass der Torwart zu viel Angst hat, sich nen Finger auszurenken, aber wie gesagt: nicht sehr schussgewaltig. Man hat zu viel Zeit zu überlegen bei so einem Elfmeter. Und dann stand da ja auch Johanna hinter dem Tor.
Johanna, ja. Wir hatten uns vielleicht zehn-, vielleicht zwölfmal gesprochen bisher. Und trotzdem war es eine Liebesgeschichte, denn auch wenn wir uns kaum sprachen, so schrieben wir uns ständig, dicke Briefe, ungelenk und unsicher, über all die Kleinigkeiten unseres Alltags und was wir lasen und was wir uns wobei gedacht hatten und… es war eine Art Briefbeziehung. Warum das so gekommen war, weiß ich nicht, wir fühlten uns sehr wohl zueinander angezogen, wir hätten genausogut ein reguläres Paar mit Händchenhalten und viel zu speichellastigen Zungenküssen sein können und mit misslingenden Versuchen, den Eltern des anderen nicht zu missfallen. Vielleicht hatten wir irgendwann den Absprung verpasst, vielleicht gefiel es uns aber so einfach besser, vielleicht war sie schöner für mich, als sie es tatsächlich gewesen ist, und ich für sie anziehender als ich war. Sehr viel später sagte sie mir einmal, sie habe vor allem gemocht, dass sie mich ganz für sich hatte, dass ich ihr kleines Geheimnis war, ihr imaginärer Freund. Und dass sie dadurch eine Vertrautheit zu mir aufgebaut hatte, die sie in den kleinen Liebesgeschichten ihrer Freundinnen nie hatte erkennen können.
Jetzt stand sie da mit ihren viel zu braunen Augen und den glatten, schulterblattlangen Haaren und hatte sich vor Aufregung vornübergebeugt. Und ich dachte: Wenn Du den jetzt rein machst, dann läufst Du zu ihr hin und sie wird Dich küssen, genauso, wie Du das aus den amerikanischen Filmen kennst, diesen Football-Schmonzetten. Und dann ist alles gut, bis übermorgen die Sommerferien begannen.
Vollspann also, ich glaube, ich habe noch nie so hart geschossen. Der Torwart zuckte noch leicht zusammen, als er den Ball kommen sah, er war eigentlich unterwegs in die richtige Ecke, hat es sich aber doch noch anders überlegt. Der Ball schlug halbhoch rechts ein, 2-0, ich schaute auf die Uhr: noch zwei Minuten zu spielen.
Ich schaute auf die Uhr. Ich schaute auf die Uhr. Dann kamen von hinten Jan und Paul und Christian und klopften mir auf Kopf und Schulter, ich schaute immer noch auf die Uhr. Dann schaute ich auf Johanna, sie lachte. Sie sah freudig aus, das wäre jetzt der Moment gewesen, auf sie zuzulaufen. Ich schaute noch einmal auf die Uhr, schaute zu Johanna, hob kurz die Hand und drehte bei. In den Schlussekunden machte Paul das 3-0, das Finale verloren wir dann denkbar knapp, aber das war egal.
Zwei Tage später fuhr ich, wie immer in den Sommerferien, nach Frankreich, für vier Wochen. Ich schrieb Johanna noch zwei Briefe, und sie schrieb mir nach fünf Tagen, dass sie in ihrem Ferienort jemanden kennengelernt hatte. Ihre erste Ferienromanze. Ich schrieb ihr, wie sehr mich das für sie freute, und es war nicht einmal gelogen. Wenn sie wolle, solle sie doch von ihm erzählen, schrieb ich. Ich habe auf diesen Brief nie eine Antwort bekommen.
Jahre später fragte ich sie einmal, ob sie sich dieses Moments entsinnen könne. Und sie sagte, an das Turnier habe sie vage Erinnerungen, damals habe sie beim Anblick der Grillbratwürste beschlossen, Vegetarierin zu werden.
In einer Anthologie erschienen mit Lizas Welt, Heinz Kamke und all den Beiträgen bei catenaccio.
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