Das Wunder von fern
Von frederic am 19 Dez 2011 | Tresenmonologe
Nächstes Jahr mache ich mich wieder unbeliebt, weil ich die ganzen Fähnchen und Fläggchen zur EM zum Kotzen finde. Neulich wieder so eine alberne Nationalismus-Diskussion gehabt, und mir wieder den Vorwurf anhören müssen, sich einer Nation nicht zugehörig zu fühlen sei „intellektuelle Abstraktion“, das war wenn nicht als Beschimpfung, so doch als Tadel gemeint.
Das finde ich witzig. Intellektuell und abstrakt ist doch gerade dieser Nationalismus. Es gibt ja nicht einmal eine vernünftige Definition von Nation! Man muss sich notdürftig zusammenklöppeln, was man damit meint. Wenn das mal kein intellektueller Aufwand ist.
Diesen intellektuellen Aufwand kann man sehen, er spiegelt sich in den meisten nationalen Mythen. Zu jeder Nation gehört immer der Gründungsmythos, ein Bezugspunkt in der Vergangenheit, auf den sich alle besinnen können. Das ist immer wahnsinig daherkonstruiert, und ganz besonders gut sieht man das an einem der deutschen Gründungsmythen: dem Wunder von Bern. Oder noch genauer: das letzte Tor von Rahn.
Man kann sich schwerlich eine authentischere Situtaion vorstellen. Dabei ist alles an dieser Szene ein Fake.
Erstens, das ist den meisten ja bekannt, ist das im Hintergrund nicht die Stimme des Originalkomentators ist. Der hieß damals Bernhard Ernst, und die Tonspur seines Kommentars ist zwischenzeitlich verlorengegangen. Was man heute im Ohr hat, wenn man diese Bilder sieht, ist der Radiokommentar von Herbert Zimmermann, den man über die Bilder gelegt hat.
Aber welche Bilder sind das denn? Es ist nämlich, zweitens, gar nicht die originale Liveübertragung. Damals gab es die technischen Möglichkeiten noch nicht, Liveübertragungen aufzuzeichnen. Was man immer und immer wieder zeigt, das sind Bilder, die mit normalen Filmkameras gedreht wurden, für eine Produktion, die zwei Wochen nach dem Wunder von Bern in den Kinos lief.
Und drittens zeigt der Film gar nicht das Tor. Sagt Wim Thoelke in seinen Memoiren „Vor allem Sport“. Als der Film, so Thoelke, nämlich auf dem Schneidetisch lag, stellte der Regisseur fest: keine einzige Kamera hat die Spielszene, die zum Tor führte, vollständig aufgenommen. Man musste das Tor mühsam zusammenschneiden: Thoelke behauptet, dass das Tor, so wie es heute noch gezeigt wird, habe nie stattgefunden. Und er zitiert Herberger, dem 1965 aufgefallen sein oll, das da was nicht stimmt, weil Rahn, als er an den Ball kam, damals ganz anders gestanden habe.
Wenn dem so ist, ist der Film hervorragend geschnitten, denn ich kan das beim besten Willen nicht erkennen. Entscheidend ist ja ohnehin nur, dass der Übervater dieser kollektiven Erinnerung sich diesem Mythos entzieht, dass es ausgerechnet Herberger ist, der dem Grundgefühl „Wir haben alle einen gemeinsamen Erfahrungsschatz“ den Boden unter den Füßen wegreißt.
Dass diese Geschichte nicht häufiger kolportiert wurde, ist ein Zeichen dafür, wie subversiv sie ist. Ich jedenfalls kann den Film seither nicht mehr sehen, ohne mich zu fragen, was ich denn da jetzt eigentlich sehe.
Das eigentliche Wunder von Bern ist dies: Dass man an diese Manipulation glaubt, als wäre es eine wahre kollektive Erinnerung.
[…] Die kollektive Erinnerung vom Wunder von Bern ist eine Konstruktion, schreibt Frederic so, als sei das jedem bekannt. […]