Türkei – Deutschland 1:3
Von frederic am 07 Okt 2011 | An fremden Brettern
Erst kam der Pfiff des Schiedsrichters, dann die Pfiffe des Publikums. Wann immer die Deutschen am Ball waren, war nichts mehr mit Stadion gleich Hexenkessel, sondern eher hyperaktives Teekesselchen. Nach einer Minute hoffte ich schon, die Deutschen mögen bitte bei unter 40 Prozent Ballbesitz bleiben, sonst Tinnitus. Kein Wunder, dass mein fußballverrückter türkischer Bäcker jede Bestellung zur Bestätigung nochmal quer durch Neukölln brüllt, wenn der so oft in türkischen Stadien war. Um es mal anders zu sagen: Was das Stadionklima anbelangt, war das heute der Hitzepol (auf der anderen Seite des Globus liegt Hoffenheim).
Die Türken hatten sich eingegraben und warteten, was die Deutschen so machen würden. Schade eigentlich, dass ich mir Analogien aus dem ersten Weltkrieg verboten habe. Aber deren Kombination ‚mit kurzen Pässen auf die Grundlinie, Flanke, Gomez‘ erwies sich als erstaunlich unbekömmlich. Stattdessen hatten die Türken ihre große Chance, ‚das Tor nach Europa ganz weit aufzustoßen‘ (Wörterbuch der deutschen Sportreportage, Sonderedition Kerner), aber Manuel Neuer gab gegen Altintop den Prinz Eugen.
Vorne hakte es, Deutschland bekam keinen Angriff zu Ende gespielt. Das lag an zweierlei: Götze haben sie zuhause gelassen und versehentlich ein verschüchtertes Häschen in die Mitte gestellt. Und zweitens stimmt es zwar, dass Mario Gomez sich besser im Raum bewegt und nicht mehr einfach nur in die Spitze sticht, aber im Vergleich zu Klose ist er trotzdem so flexibel wie eine Eisenbahn gegenüber einem Geländewagen.
Daran ändert auch das Tor nichts, das zwar brilliant abgeschlossen war, in der Entstehung aber schlicht dämlich verteidigt. Neuer fängt eine Ecke ab, wirft ihn diagoal auf Müller, der schlägt ihn lang, weit, hoch und diagonal auf Gomez. Der faltet Servet zusammen, den man am nächsten Tag in türkischen Medien deswegen Serviette nennen wird, und drischt den Ball ins lange Eck. Sah aus wie ein Spielzug, den man beim SC Freiburg häufig sieht, aber völlig untypisch für das deutsche Spiel. Ungefähr so irritierend wie Angela Merkel im Sommerkleid. Aber was solls, ein Tor ist ein Tor, einem geschenkten Gomez schaut man nicht ins Maul. Stattdessen sah man in 50.000 geöffnete türkische Mäuler, die ihr Unglück kaum fassen konnten.
Denn, so viel stand zur Halbzeit fest, eigentlich hätte die Türkei führen müssen: hinten tanzten die Deutschen gerne mal den Paso Doble: zwei Schritte, einmal Abklatschen. Aber nicht den Gegner! Dem wurde galant die weite Flur geöffnet. Nach der Halbzeit standen sie dichter gedrängt hinten drin, und die bedauernswerten Türken versuchten, sich durchzuschlagen. Aber im Fußball ist es wie bei der Liebe: schiere Leidenschaft ohne Finesse und Selbstbeherrschung reicht für fünf Minuten, bleibt am Ende aber unbefriedigend.
So kams denn dann auch, dass Götze in einem seiner sehr wenigen lichten Momente einen Pass von Neuer erdete (ein Pass übrigens, der so spekulativ war, dass ihn Die Linke in der Regierungsverantwortung besteuert hätte) und ihn quer auf Müller legte. Der schob oder schoß ihn mit einer Schußtechnik, die ich bisher so noch nie gesehen habe (außer bei ihm), ins lange Eck. Wie der das macht, diese Schüße. Diese Schieber. Schiebße vielleicht. Oder Schüßer.
Jedenfalls war von Pfeifen ganze drei Minuten nichts mehr zu hören, selbst wenn der tapfere Boateng zur Grätsche ansetzte. ‚Auf Wiedersehen‘, sang die deutsche Kurve, die bisher schönste Kritik an der deutschen Einwanderungspolitik in einem Stadion.
Und dann, zwölf Minuten vor Schluss, kaum war Boateng unter der Brause, tauchte nach einer Flanke rechts hinten Hakan Balta auf und nagelte den Ball dermaßen in die Maschen, dass man noch nicht einmal auf die Wiederholung kucken musste, um festzustellen, dass der selbst für Manuel Neuer unhaltbar gewesen sein muss. Balta übrigens, gebürtiger Charlottenburger, jubelte nicht. Was man bei Özil ständig anmerkt, muss auch hier erwähnt sein.
Danach war das Spiel vorbei. Als hätten die Türken mit dem einen Tor ihr soll erfüllt, ließen sie den Gästen das Feld. Aus reiner Gastfreundschaft schenkten sie den Deutschen obendrein noch einen Elfmeter, weil ohne diese Gelegenheit keiner das Tor hat treffen wollen. Aber Schweinsteiger ließ sich nicht lumpen (es hätte Alternativen gegeben), 1:3, Schlußakkord.
Was am Ende übrig bleibt: Erstes Länderspiel Marco Reus.
Nur mal kurz ein paar Punkte, weil es Spaß macht, abzugleichen:
Das 1:0 ist aus meiner Sicht kein Spielzug a la SC Freiburg (deren Fan ich seit Kindesbeinen an bin, qua Herkunft), sondern ein relativ typischer Neuer-Müller-Gomez. Nicht, dass man ihn so schon tausendmal gesehen hätte, aber dass Neuer diese Abwürfe kann und planvoll einsetzt, dass Müller wegen solcher Bälle dort lauert und ein hervorragender Vorbereiter ist, und dass Gomez bei genau solchen Bällen gefährlich wird und aus dieser Position sicher einnetzt, weiß man alles. Und: Die zwei Pässe waren haargenau passend geschlagen/geworfen und getimed, so dass so ein blitzschneller und -sauberer Konter auch schwer zu verteidigen ist. Serviette lässt sich zwar austanzen, aber steht vorher aus Spielzuggründen halt schon sehr ungünstig gegen einen Gomez, der das perfekt macht. Und ich würde sogar mal behaupten, dass im Verein oder Nationalteam sowas auch geübt wird.
Dass die Türkei streckenweise kaum aus der eigenen Hälfte kamen, rechne ich nicht einer möglichen defensiven Grundordnung an. Wann immer sie konnten, griffen sie ja mutig an. Aber die Ballsicherheit im deutschen Aufbauspiel war in meinen Augen mal wieder zu groß für einen Gegner, dem es an Qualität fehlt. Sprich: Sie waren immer nur so gut und gefährlich, wie die Deutschen sie ließen.
Zweites Tor: Auch hier wusste jemand ziemlich genau, wo Neuer gerne hinschlägt, eben jener Götze macht das stark, will dann womöglich eigentlich Schürrle einsetzen, der für Müller lässt, der den Ball keineswegs reinmüllert, sondern nach zwei hoffnungsvollen Versuchen vorher einfach perfekt unhaltbar verwandelt. So und nicht anders muss dieser Ball halb geschoben, halb gedroschen werden, flach, platziert, hart. Also: Ein bisschen Zufall an anderer Stelle und viel, viel Qualität.
Drittes Tor Fehler Müller, der spekuliert, dass die Flanke nicht kommt (das hat sogar der Bartels gesehen), dann aber mit einem typisch müllerschen Elfmeter alles wieder gut macht. Auch hier: Als schneller, wendiger Spieler mit einem Gefühl fürs Spiel merke ich zumindest instinktiv, dass die Türken müde und langsam auch verzweifelt werden. Also legt sich Müller in der Szene geschickt eigentlich den Ball um einen Gegenspieler zu viel und spekuliert (diesmal richtig) auf einen ungeschickten langsamen Fuß, der ihn dann trifft. Cleverness und Timing. Nicht geschenkt, sondern abgeholt.
Wie getwittert: Etwas mehr Absicht und Qualität hinter den Aktionen, dazu insgesamt für mich einfach wieder eine sehr gute Leistung unter diesen Voraussetzungen (Özil weg, 50000 Türken dafür da, Quali schon durch, letzte Chance Türkei).
Und: Götze gerade in Halbzeit zwei wichtiger als manche denken, weil beruhigend vorne am Ball und immer für eine Aktion gut. Khedira sehr gut, Scheinsteiger überragend, vielleicht die zwei Matchwinner, weil gerade in solchen Spielen die ständige körperliche Präsenz, Ballsicherheit, taktische Überlegenheit (eindeutig bei Deutschland und aus der Mitte gesteuert) und überlegene Ausstrahlung viel wichtiger sind als geniale Momente und spektakuläre Aktionen.
Oder? ;-)
Ahahaber: Pässe hoch übers Feld geschlagen, über 30, 40 Meter, das macht man nur, wenn einem sonst nichts einfällt. Das ist eigentlich viel zu riskant. Der einzige, der das bis zur Perfektion konnte, war Willy Sagnol. Die beiden ersten Tore waren nicht Teil des Matchplans, danach läufts natürlich, weil man (ja, das stimmt) besser ist, technisch besser gegen erstaunlich limitierte Türken.
Khedira seh ich nicht so stark, und Götze hätte man gebraucht, als es nicht lief, nicht, als es lief.
Ansonsten bin ich vom Gemüt her vielleicht etwas galliger, kann aber ansonsten unumwunden zustimmen: das war fußballerisch ein Klassenunterschied. Aber gegen Italien oder die Niederlande reicht diese Ausrichtung nicht.
Ha, hohe Bälle als letztes Mittel? Was machst Du als Torwart denn bitte sonst, wenn Du weisst, dass an der Außenlinie einer wartet? Flach spielen? Du kannst das doch nicht einer Verlegenheit zuschieben, wenn der Neuer einen Ball fängt und dann zentimetergenau einen Konter (egal ob dann erfolgreich oder nicht) einleitet? Und riskant? Falsche Kategorie bei solchen Hochtempokontern, da gibts kein „riskant“, da musst du was probieren oder halt gar nicht erst schnell spielen. Wenn der Ball an der Mittellinie ins Aus geht oder sogar direkt beim Gegner landet, stehen nach der Ecke/Angriff gegen „uns“ 8-9 Mann tief hintendrin, während die Türken erst neu rausrücken und aufbauen müssen, und damit wäre shclimmstenfalls alles auf Anfang. Riskant fürs eigene Tor gibt´s in der Situation also eigentlich gar nicht.
Und Müllers Ball auf Gomez ist ein diagonaler und hoch und weit, aber in der Situation einfach nur gut, weil er sieht/ahnt, dass sich Gomez genau richtig absetzt. Keine andere Option!
Und der Sagnol-Vergleich hinkt schlimmer als Boateng: Sagnol (Verteidiger) schlug Halbfeldflanken in den Strafraum, und das so gut, dass sie wirkungsvoll waren. Das war manchmal ein letztes Mittel wenn sonst nichts ging (zu Ballacks Zeiten), aber eben aus völlig anderen Situationen heraus.
Den Satz „Die beiden ersten Tore waren nicht Teil des Matchplans…“ nochmal auf der Zunge zergehen lassen. Hat Löw etwa erst mit Gegentoren geplant? Darf man als deutsche Nationalmannschaft keine Kontertore schießen? Oder müssen mindestens 10 Ballkontakte vorangegangen sein? Ich denke sogar, dass Löw mit höherem Ballbesitz und mehr Druck der Türken gerade in der Anfangsphase gerechnet hat, insofern wiederhole ich mich: Das war, zumindest im Ansatz, so abgesprochen.
Götze anfangs wirklich nicht stark, aber das ist auch eine Frage der Perspektive. Wenn man bei viel Ballbesitz die Türken tief reindrängt, die anfangs noch viel Kraft und Leidenschaft aufwenden konnten, dann sind eben die inzwischen ja quasi per Spielregel vorgeschriebenen genialen Momente solch eines Spielers sehr schwierig zu ermöglichen. Da braucht es Platz, Räume und das richtige Timing. Und das war sein wievieltes Spiel unter Wettkampfbedingungen? Dafür hat er´s wirklich gut gemacht, wie immer kaum Ballverluste, kaum falsche Entscheidungen, oft anspielbereit. Das meine ich: In der ersten Halbzeit war eben eher ein Khedira gefordert und zu sehen.
Jetzt reichts erstmal ;)…
Warum spielt man normalerweise die Konter flach und schlägt die Pässe über acht bis zehn Meter, um dann über die Flügel in den Raum zu gehen? Weil das die höchste Wahrscheinlichkeit hat, erfolgreich zu sein. Es geht darum, möglichst präzise möglichst schnell abzuschließen, deswegen schlägt Neuer normalerweise keine Bälle übers ganze Feld: Ballverlustquote zu hoch. „Nicht Teil des Matchplans“ ist übertrieben, aber tatsächlich läufts vor dem ersten Tor nicht: so gut wie keine Chancen, gefährlich nur nach Standards, eher ungewöhnlich. Das erste Tor verdankt man nicht einer überlegen geführten Partie, sondern einer zu weit aufgerückten türkischen Mannschaft und einem individuellen Fehler. Danach ist der Drops gelutscht, und als das 2:0 fällt (ein Außenristpass übers ganze Feld! Gut gemacht, keine Frage, aber in wieviel Prozent der Fälle geht das gut?), ist die Sache gegessen.
Also den ersten Satz und besonders das Vorzeichen „normalerweise“ halte ich für in sich fragwürdig, in dem Kontext (Konter nach Ecke) aber einfach für falsch. Du kannst ja nicht einen konventionellen Spielaufbau (Gegner steht halbwegs geordnet, Räume begrenzt) mit sicheren und deswegen flachen Bällen vergleichen mit einer Ausnahmesituation wie einer Ecke oder einem Angriff mit Torabschluss des Gegners (Gegner steht hoch, Räume sind weit), in der einfach Tempo gemacht werden muss, um die Situation und Räume zu nutzen. Richtig, „normalerweise“ spielt Neuer flache Bälle, aber halt zu den Innenverteidigern, weil das die besten Anspielstationen beim geordneten Spielaufbau sind. Bei sehr schnellem Umschalten und aufgerücktem Gegner wirft er aber natürlich oft lange, weite Bälle (dafür wird er seit Jahren gelobt), um den offenen Weg zum gegnerischen Tor möglichst schnell zu überbrücken. Zwei völlig verschiedene Situationen, insofern tut Manuel Neuer sicher auch keine Äpfel in einen Birnenkuchen, Du verstehst.
Bei uns zwei prallen wahrhaftig Philosophien aufeinander ;): Wie kann bei einer derart hitzigen Atmosphäre „der Drops gelutscht“ sein nach einem Tor? Und: Sind weit aufgerückte Gegner, die man unsortiert kalt erwischt, nicht auch Zeichen „einer überlegen geführten Partie“, eben weil sie mit Mann und Maus anrennen, aber nichts zählbares mitnehmen? Oder: Im richtigen Moment den (Außenrist??)Pass über 50m an den Mann bringen, ist doch keine Frage von Wahrscheinlichkeiten, sondern von fußballerischem Instinkt, Technik und Selbstvertrauen. Und genau da war Deutschland der Türkei weit überlegen.
Ich glaube, was hier der Unterschied ist: Du glaubst eher an Zufälle, Nachlässigkeiten, hatsichsoergeben. Ich glaube an Fußball. :-)
Ja, aber was die deutsche Mannschaft normalerweise spielt, hat dieses Mal überhaupt nicht funktioniert. Wie oft kam es in den letzten Jahren vor, dass die Deutschen den ersten vernünftigen Angriff direkt erfolgreich abgeschlossen hat? So gut wie nie.
Der Unterschied ist eher der: Du schaust auf das Spiel zurück, vom Ergebnis her, a posteriori. Ich schaue das Spiel (wenn ich solche Berichte schreibe sowieso) im Verlauf, und damit zerfällt es und ist weniger einheitlich.
Wo is´n hier der Link zum Twitteraccount? Ich will folgen…
Gruß
Björn
Hab jetzt einen eingerichtet: http://twitter.com/#!/zumblondenengel
[…] Türkei – Deutschland 1:3 (Zum Blonden Engel) – Schön zu lesender Bericht zum Länderspiel Türkei vs. Deutschland. […]
Als Nachtrag: der Abwurf von Neuer auf Müller beim 1:0 war einstudiert für den Fall, dass der gegnerische Linksverteidiger weit aufrückt und zu weit von Müller entfernt steht. Sagt Neuer.
Genau das wird ständig in München trainiert, nicht nur in Freiburg. ;)
Das subsummier ich mal unter „dämlich verteidigt“! Ich bin sehr nachsichtig mit mir.
Haste natürlich auch wieder recht.