Hakan Balta, geboren in Berlin. Ömer Toprak, geboren in Ravensburg. Nuri Sahin, geboren in Lüdenscheid. Hamit Altintop, geboren in Gelsenkirchen. Mehmet Ekici, geboren in München. Gökhan Töre, geboren in Köln. Tunay Torun, geboren in Hamburg. Sie hätten alle auch für Deutschland spielen können, aber nein: es sind alles Nationalspieler der Türkei.

Es gibt natürlich viele Gründe, lieber für die Türkei zu spielen als für Deutschland. Überhaupt die Wahrscheinlichkeit zu spielen, die ist ja schonmal deutlich höher, siehe Serdar Tasci. Dann der Druck der Familie, jener Einwanderer, die zu spät kamen, um unter Jubel ein Moped überreicht zu bekommen, und Deutschland mit dem gleichen Misstrauen begegnen, wie Deutschland ihnen begegnet. Und auch die Werbung des türkischen Verbandes, der sie erlegen sind, wie eine abenteuerlustige Magd dem durchreisenden Edelmann.

Diese Motive mögen eine Rolle spielen, aber sie erklären nichts. Diese Motive klingen nach Berechnug, nach Übervorteilung, nach List und Tücke, nach Undank, nach Opportunismus und schwachem Willen. Es klingt nach einem Mestizen, einem Halbblut in Karl May-Romanen. Nach 19. Jahrhundert.

Es ist allen klar, dass eine Nationamannschaft längst keine Nationalmannschaft mehr ist. Das brüchige, unklare Konzept ‚Nation‘, es zeigt seine Sollbruchstellen an diesen einzelnen Schicksalen. Es ist völlig beliebig: Denn es ist nicht so, dass man nachfühlen kann, warum Mesut Özil entschieden hat, einer von jenen zu werden, und Nuri Sahin einer von diesen.

Meine Vorfahren stammen aus Böhmen, aus Österreich, aus Belgien, Bayern, der Bretagne und Paris, und das sind nur die letzten drei Generationen. Ich bin eine mitteleuropäische Straßenmischung. Ich habe zwei Nationalitäten, die deutsche und die französische. Ich habe auch zwei Sprachen, ich habe zwei Kulturen, die sich zwar sehr ähnlich sind, aber doch unterschiedlich in wesentlichen Punkten.

Das macht mich nicht zum perfekten Sprachrohr für Binationale, aber ich glaube doch, dass es diese Kategorie an Menschen gibt: Binationale. Es gibt eine bestimmte Sorte Erlebnisse, die wir teilen, so glaube ich, die sich sehr oft in Kleinigkeiten zeigt. Zum Beispiel teile ich mit einem deutsch-türkischen Freund M. eine ganz grundsätzliche, prägende Erinnerung an meine Kindheit, nämlich die stunden-, ja beinah tagelangen Fahrten im Sommer zu den Großeltern. Er fuhr dann immer nach Südosten, ich nach Nordwesten, aber es waren die gleichen Bilder: die Kekskrümel auf den Sitzen, das Warten auf die nächste Raststätte, um kurz herumzutoben, die Märchenkasetten, die in der Dauerschleife liefen und die Eltern in den Wahnsinn trieben, das Eis zur Belohnung, wenn wir brav geblieben waren. Und diese gähnende Langeweile, während man auf Autobahnböschungen starrt, Minute um Minute, Stunde um Stunde, bis man alle Zeit vergessen hat.

Man teilt allerdings auch etwas, das sich weniger gut erzählen lässt, weil es viel zu abstrakt ist. Roland Koch hat es damals nicht gesagt, aber gemeint hat er es wohl: man kann keine zwei Vaterländer haben, und deswegen war er gegen den Doppelpass. Es ist auch völlig wahr: man kann keine zwei Vaterländer haben. Entweder man hat eines, oder keines.

Ich hatte keines. Offiziell habe ich beide Staatsbürgerschaften, ich habe beide Pässe, beide Sprachen, beide Kulturen, aber kein Vaterland. Ich hatte immer nur ein Anti-Vaterland.

Das muss ich kurz erklären: Wenn ich in Paris – ortsuntypisch – an einer roten Fußgängerampel hielt, dann fanden dass alle Freunde und Bekannte ausgesprochen deutsch. Wenn ich in Deutschland morgens um halb sieben vor der Schule rauchte, fand man das ausgesprochen französisch. Alles, was ich anders machte als die anderen, war nicht ’seltsam‘ oder ‚eigen‘, sondern gleich eine Frage der nationalen Zugehörigkeit. Das ging so weit, dass ich in Frankreich immer der Deutsche war, in Deutschland immer der Franzose. Und das meine ich mit Anti-Vaterland: eine Identifikation mit dem Land, das mich gerade umgab, fand nicht statt. Immer nur mit dem Land, das mich gerade nicht umgab.

Und dieses Land, das mich gerade nicht umgab, gab es natürlich nicht. Es war ein Traumland, ein Märchenschloss, das meiner Fantasie entsprang, und in das ich reibungslos passte. Immer war es da, wo ich nicht war.

Inzwischen ist es nirgendwo mehr, hier, in Berlin, braucht man sowas nicht. Es ist ein Privileg, nicht zu einer Entscheidung gezwungen zu sein. Es ist archaisch, sich zu entscheiden. Und trotzdem bin ich, wenn Frankreich gegen Deutschland spielt, immer für Frankreich. Und M., geboren in Berlin, immer für die Türkei.

Heute Abend ist es Deutschland für mich. Aber es ist ein beruhigender Gedanke, dass es auch die Türkei hätte sein können.

Foto:txmx 2