Von frederic am 17 Okt 2011 | Brettgeflüster
Wir haben diesen Spieltag drei Fälle von diskutablem passiven Abseits gesehen, in Bremen, in Mainz, in Köln: drei Mal fragte man sich, wo die Schiedsrichter ihren Zivi zwischengeparkt haben.
In der Regel heißt es, ein Spieler werde dann für seine Abseitsstellung bestraft, wenn er nach Ansicht des Schiedsrichters „ins Spiel eingreift, einen Gegner beeinflusst oder aus seiner Position einen Vorteil zieht“. Spoezifischer wirds nicht mehr, die Regel ist so weich wie der EU-Stabilitätspakt. Im Zweifel bleibt nur: nach Ansicht des Schiedsrichters.
Oder vielmehr: nach Ansicht. Auch nach dutzendfacher Wiederholung der Szenen ließ sich in einem von mir eigens zusammengestellten Schiedsgericht keine eindeutige Kärung herbeiführen. Jeder hatte eine andere Meinung (wobei die einzig richtige natürlich ist: Lewandowski und Choupo-Mouting im Abseits, Ya Konan nicht). Und jede dieser Meinungen war unbegründbar, völlig willkürlich und auf Hans-Peter Friedrichsche Art argumentlos. Jeder folgte dem ersten Augenschein, und die vielen, vielen Wiederholungen machten die Sache nicht besser: im Gegenteil, wie im Wahn steigerte sich jeder in seine Interpretation hinein, und am Ende klangen alle wie Reich-Ranicki. Einige versuchten sich auf die autoritäre Art herauszureden: Es sei unerheblich, was man davon denke, sobald der Schiedsrichter pfeife, sei es eben Abseits. Genau diese Einstellung, dieser blinde Glaube an eine ungerechte unnachvollziehbare, willkürliche Entschiedungsgewalt, schrien andere, sei die Wurzel allen Übels in Deutschland! Wer so spreche, sei auch unter den NAzis ein guter Bürger gewesen. Alsdann kam bald zu philosophischen Disputen: Wenn etwas wie Homer Simpson aussieht, ist es dann auch Homer Simpson? Und was sieht schon aus wie Homer Simpson, wie identifiziert man Homer Simpson? Kurzum, die Realität kam ins Wanken, und nur die vorgerückte Uhrzeit verhinderte, dass gemeinsam ein absurdes Theaterstück aufgeschrieben wurde.
Das passive Abseits ist kaum richtig erklärbar und vor allem im Geschehen nicht zu entscheiden. Diese Regel ist das Knie im Arsch des Spiels. Sie muss allein deswegen schon abgeschafft werden, und nach allen Regeln der Grammatik reformiert: Entscheidend ist nicht, ob der Torwart und die Abwehr irritiert wird. Aus passiv wird nur dann aktiv, wenn der Spieler willentlich ins Geschehen eingreift oder es mindestens versucht. Das gilt in diesem Beispiel nur für Lewandowski, der sich zum Ball hindreht. Das kann man immerhin besser beurteilen als eine Exegese des Torwart-Blickfelds.
Und: Bei Notbremse rote Karte plus Elfmeter geht gar nicht. Da immerhin sind sich fast alle einig.
Hm, was soll denn nun mit der Regel geschehen? Soll sie abgeschafft oder »nach allen Regeln der Grammatik reformiert« werden? Beides gleichzeitig geht nun mal nicht. Der Ruf nach einer Abschaffung des passiven Abseits’ ertönt ja immer wieder und scheint mir also recht populär zu sein. Doch erhörte man ihn, gäbe es – da bin ich mir sicher – alsbald ein noch viel größeres Geschrei. Dann nämlich, wenn sich beispielsweise links außen einer, der sich im Abseits befindet, gerade die Schuhe zubindet, während der Ball nach rechts außen gespielt wird, wo ihn einer erreicht, der beim Pass in der eigenen Hälfte stand. Striche man das passive Abseits aus den Regeln, hätte der Schiedsrichter in einer solchen Situation seine Pfeife zum Einsatz zu bringen – und ohne jeden Zweifel hieße es dann landauf, landab, das sei ja wohl der allerletzte Unfug.
Du forderst: »Aus passiv wird nur dann aktiv, wenn der Spieler willentlich ins Geschehen eingreift oder es mindestens versucht.« Im Grunde genommen ist es im Moment aber bereits genau so – nur streiten sich die Gelehrten (inklusive der Referees und ihrer Assistenten) eben darüber, wann ein solcher willentlicher Eingriff (oder der Versuch) gegeben ist und wann nicht. Und woher soll man auch wissen, was Ya Konan vorhatte? Wollte er Rensing womöglich irritieren (das wäre ja ein Eingriff)? Hat er auf einen Abpraller spekuliert? Und was plante Chihi vor Podolskis zweitem Tor? Das wissen wohl nur die Beteiligten selbst, doch als Zeugen schieden sie, weil notwendig befangen, aus.
Vor einer Weile stellte sich die Regelauslegung noch so dar, dass eine Abseitsposition nur dann als aktive bewertet wurde, wenn der betreffende Angreifer den Ball auch wirklich berührte. Das führte mit der Zeit zu einem vernehmlichen Gezeter, eben weil das Irritieren der gegnerischen Verteidiger (oder des Torwarts) keine Rolle mehr spielte. Also entschloss man sich dazu, die Auslegung wieder enger zu fassen – mit dem Resultat, dass nunmehr Tore aberkannt wurden, die vor nicht allzu langer Zeit noch gezählt hätten. Zufriedenstellend war und ist fraglos keine dieser Interpretationen – doch eine gänzlich befriedigende hat aus meiner Sicht noch niemand vorgeschlagen. Und vielleicht gibt es sie auch gar nicht.
Leben wir doch einfach damit, wie es jetzt ist – und das heißt auch damit, dass der Schiri entscheiden muss, wann ein Abseits aktiv und wann es passiv ist. Dabei geschehen zwar Fehler wie gestern in Köln (wenn schon Rensing sagt, Ya Konan habe ihn definitiv nicht beeinflusst, dann lag der Doktor Drees fraglos daneben). Aber es gibt ja auch Spieler, die einen Elfmeter oder andere Großchancen vergeben. Manche Probleme kann man halt nicht lösen, sondern nur eingrenzen.
Abschaffen und gleichzeitig reformieren geht nicht, stimmt, in reformieren ist abschaffen ja schon drin. Aber davon mal ab: komplett weg vom passiven Abseits will keiner, klar.
Aber: So, wies jetzt ist, isses Mist. Ich denke, es ist einfacher, den stürmer zu beurteilen, ob er zum Ball will oder nicht (Ya Konan dreht ab, Chihi läuft aus, Lewandowski dreht sich zum Ball), als zu beurteilen, ob der Torhüter irritiert wurde oder nicht. Das Problem ist die Unnachvollziehbarkeit. Und die könnte man eingrenzen, indem man wieder zurückgeht auf den Stand von vor der Reform. Darüber, ob der Stürmer jetzt tatsächlich eingreift oder nicht, kann man im Zweifel streiten, statt auf Aussagen von Torhütern und Verteidigern zu bauen, die je nach Ausgang des Spiels (und damit je nach Befangenheit) wohl anders argumentieren könnten.
Einverstanden! Allerdings würden die Diskussionen dann trotzdem nicht abebben, eben weil auch die Frage, ob ein im Abseits befindlicher Stürmer nun (willentlich) eingreift oder nicht, je nachdem nur sehr schwer zu beantworten sein würde. Mir ging es in erster Linie um einen Hinweis darauf, dass es vermutlich keine eindeutige Lösung dieses Problems gibt, die nicht praxisfern ist. Insofern müsste man wohl weiter herumdoktern und nach einem Weg suchen, der die größtmögliche Akzeptanz genießt. Zur Zufriedenheit aller beilegen lässt sich der Streit um das Thema (passives) Abseits nach meinem Dafürhalten nicht.
Aber man könnte sich wenigstens mit Argumenten kloppen! Jetzt ist bloß Küchenoptometrie möglich. Beeinträchtigt Lewandowski mit seiner Bewegung die Reaktionsschnelligkeit des Torwarts? Stört er ihn? (Natürlich stört er ihn, er ist ja des Gegners Stürmer. Aber in der Situation?) Wie will man das als Schiedsrichter sehen, oder (wichtiger und entscheidender) als Zuschauer nachvollziehen können?
Du hast natürlich recht, es gibt keine eindeutige Lösung. Nicht umsonst ist das Abseits auch die historisch umstrittenste aller Regelungen. (Kleiner Seitenhieb auf Beckenbauer: Wenn der übrigens „zurück in die Steinzeit“ sagt, hat er vielleicht vergessen oder – wahrscheinlicher – nie gewusst, dass ursprünglich nicht ein Verteidiger zwischen Ball und Tor stehen muss, sondern zwei, also drei Mann zwischen Torlinie und Angreifer.) Das Problem jetzt ist, dass man nicht darüber streiten kann. Man muss sich schlicht dem Diktum des Schiedsrichters beugen, und das ist unbefriedigend.