Zu Lebzeiten
Von admin am 26 Mai 2016 | An fremden Brettern
Gestern, in einer Kreuzberger Kneipe, wir saßen zusammen und schmiedeten Pläne, kam ein Strassenfegerverkäufer vorbei, ich sah ihn kaum an, er sagte, er sei gerade obdachlos und ob wir nicht… da unterbrach er sich und sagte zögernd „Fred?“ Ich sah ihn an und erkannte ihn immer noch nicht, er streifte sich seine Kapuze vom Kopf und sagte: „Weißte noch?“ Ja, da fiel es mir ein, ich wußte noch, verdammt, das war der N., aus einer meiner alten Kneipen, ich saß recht oft mit ihm am Tresen, schlau war er und hatte viel gelesen, wußte einiges über Hegel und Bruckner, Brahms auch, er liebte romantische Klaviermusik, von Fußball allerdings hatte er fürwahr überhaupt keine Ahnung; ich hatte mich schon hin und wieder gefragt, wie es ihm geht, und jetzt sah ich es: nicht gut. Heroin, wahrscheinlich, das war schon damals das Problem, das hat ihn Beziehung und Job gekostet, jetzt, sagte er, sei er wohnungslos, aber es ginge wieder aufwärts, sagte er, ich hätte das wirklich gern geglaubt. Ich gab ihm 20 Euro, und ich weiß nicht, war das eine nette Geste oder eine ungeduldige, wie ein Wedeln mit der Hand, es war schiere Hilflosigkeit, ich habe keine Ahnung, was man da macht. Hab ich ihm geholfen oder seinen Untergang beschleunigt, ich bin nicht in der Position zu helfen, man verachtet die Schwachen ja doch auch deswegen, weil man selbst vor ihnen so hilflos ist, weil sie einem die eigene Machtlosigkeit spiegeln, die eigene Vergänglichkeit auch, ich sah ihn und dachte: so wird mich auch einmal wer ansehen, bald schon, und es gibt nichts, gar nichts, was ich dagegen tun kann.
Zum Abschied klopfte ich ihm auf die knochendürre Schulter und wußte nicht was sagen, da sagte er – er! – Das wird schon alles wieder. Okay, sagte ich, okay. Viel Glück, sagte ich, und er: Bis dann.
Ich habe nicht die allergeringste Ahnung, was man in der Situation machen sollte.
Bzw. natürlich weiß ich das. Und das weißt Du auch und das weiß jeder: Den Mann einsammeln, zu sich nach Hause mitnehmen und alles stehen und liegen lassen, um ihm zu helfen. Und nichts anderes zu tun, bis es ihm besser geht.
Aber das ist ja Quatsch. Leider. Oder nicht leider, keine Ahnung. Auf jeden Fall Quatsch.
Ihm 20 Tacken geben und hier Deine Zweifel und Dein Mitgefühl öffentlich machen, das wäre jetzt auch die allerbeste Möglichkeit, die mir irgendwie einfiele. Und natürlich ist beides nur dazu da, Dich zu entlasten. Aber das ist ja deswegen nicht falsch.
Ich würde gerne hier hinschreiben, dass mich Deine kurzen Gedanken über diese Begebenheit berührt haben. Aber hilft das jemandem? Hilft das mir, Dir oder ihm? Kein Stück. Ich erlebe einen kurzen Schauer des Gruselns und des Mitgefühls. Hach, was kann ich mich gut fühlen, weil ich so einen Text lesen, aufnehmen und mich meiner Empathie vergewissern kann. Emotionales Verkehrsunfall-Glotzen. Billig.
Was helfen würde: Sich kraftvoll für eine Gesellschaft einzusetzen, die ihre im Übermaß vorhandenen Ressourcen dafür einsetzt, in Not geratenen Menschen zu helfen. Bedingungslos und konsequent zu helfen. Zu helfen, auch wenn die an ihrer Notlage größtenteils selber „schuld“ sein mögen. Das würde helfen. Mach ich das? Nö, natürlich nicht, viel zu unbequem.
Aber bringt das irgendjemandem etwas, hier so einen schmierigen Dreh zu wohlfeiler Gesellschaftskritik anzukleben? Außer mir und meinem Ego? Ganz sicher nicht.
Also, wofür waren Blog-Kommentare nochmal? Um dem Autoren Resonanz mitzuteilen. Damit er nicht das Gefühl hat, irgendetwas ins Internet zu schreiben, was niemanden juckt. Insofern:
Mich hat Dieser Text berührt.
Alles andere, was ich geschrieben habe, ist Schwachsinn. Das ist unbefriedigend. Aber so ist es.
Ja bzw. verdammte Scheiße bzw. ach ich weiß auch nicht bzw. danke.
[…] Zu Lebzeiten – so beschreibt Frederic eine Begegnung, die mir unter die Haut gegangen ist. […]