Sinn und Sinnlichkeit
Von frederic am 03 Jul 2016 | Stammgäste
Dieser Text ist personaldebatte gewidmet. Der Ursprungstext ist hier.
Irgendwann sagte Steffen Simon gestern, Özil sei bis dato an keinem Torabschluß beteiligt gewesen, wenn ich mich recht erinnere, war das ganz zum Ende der ersten Halbzeit hin.
Da habe ich mich doch kurz gewundert.
Vielleicht fangen wir ganz von vorne an.
Nehmen wir zunächst das Offensichtliche. Die meisten Teams sind stark defensiv orientiert, sie stellen im Zentrum den Raum zu, oft mit drei defensiven Mittelfeldspielern. Konsequeterweise haben die Stürmer wenig Platz, weswegen kaum einmal einer entscheidend ein Spiel geprägt hat. Mit Ausnahme Pelles schienen die meisten auch einigermaßen unter ihren Möglichkeiten zu spielen. Enstsprechend fallen ziemlich selten Tore diese EM. Und wenn sie fallen, dann (zumindest in der Vorrunde) spät; weil dann doch mal einer zu weit weg ist, weil die angreifende Mannschaft mal was versucht, was eigentlich, weil selten erfolgsversprechend, verboten ist (aus paarnzwanzig Metern draufhalten zum Beispiel, das hätte Payet in der 20. Minute sicher noch nicht gedurft).
Was man also braucht, sind Leute, die den Ball halten können und Tempo nach vorne bringen. Man muss die Ketten hinten in Bewegung bringen, wenn man Räume schaffen will. Es gibt ein paar Spieler, die das bisher ziemlich überzeugend gemacht haben, meistens kommen sie aus einer tiefen Position (Hamsik, Ramsey, Björnason). Dass tatsächlich ein Spielmacher, seinem Namen entsprechend, das Spiel macht, ist ziemlich selten (Iniesta in den ersten beiden Gruppenspielen zum Teil).
Das liegt auch daran, dass sie ständig unter Druck sind und keinen Ball mehr frei nehmen können. Kroos hat bisher auch deswegen so gut ausgesehen, weil er quasi ohne Druck spielen konnte; die Räume, in denen er sich bewegt, waren gegnerfrei, weil sich bei dieser EM kaum einer Pressing zutraut. Außer eben zum Beispiel Italien: gestern dann kam er sehr oft in Kontakt mit Gegenspielern, und siehe da, er hatte im Vergleich zu den bisherigen Spielen in der ersten Halbzeit nur noch ein Drittel Ballaktionen.
Das sind die Bedingungen, unter denen Zehner inzwischen immer arbeiten. Wenn vorne so wenig Raum ist, dass man kaum einmal an den Ball kommt, werden zwei Dinge entscheidend: erstens Raumverständnis und zweitens Technik. Man darf sich nicht täuschen lassen davon, dass das immer so locker aussieht; die Ballverarbeitung, wie Özil sie zelebriert, ist schwer. Wahrscheinlich ist kein Spieler aktuell so gut in der Ballannahme wie Özil. Dass die deutsche Mannschaft im Vergleich mit anderen Mannschaften so oft den Ball im vorderen Drittel halten kann (trotz eines Müllers, der ein wenig außer Form ist), liegt maßgeblich an dieser seiner Fähigkeit.
Im Grunde ist Özil der Faktor, der das deutsche Offensivspiel maßgeblich in Fluß hält. Er mag nicht direkt aufs Tor geschossen oder einen Torschuß vorbereitet haben in der ersten Halbzeit, aber es gab doch kaum einen Angriff, in dem er nicht auf die ein oder andere Art die Füße im Spiel hatte.
Soweit zu Özil. Ich habe gestern im Überschwang gesagt, er sei der beste Mann gewesen; das ist freilich ein wenig übertrieben. Der Morgen danach, Zeit für Relativierungen! Also: Ich denke, für den Erfolg gestern waren drei Dinge entscheidend.
Erstens, die aggressive Verteidigung der Konter. Das war fürwahr beeindruckend, wie die Verteidiger, kaum kam der Ball hoch herangeschlagen, wie Kettenhunde die italienischen Stürmer überfiel und sie wie ein Mückenschwarm piesackte und peinigte, bis sie den Ball entweder verloren oder zurück nach hinten spielten. Hummels, der immer mal wieder einfach einen Schritt nach vorne machte, um einen Ball abzufangen, mit aller gebotenen Lässigkeit, als würde er an einen Tresen schlendern.
Zweitens, Manuel Neuer. Der war der Grund, warum das italienische Pressing, wenn sie es mal aufzogen, ins Leere lief, weil man ihn in jeder Lage anspielen kann, ohne befürchten zu müssen, dass er gleich ein quadratmetergroßes Rasenstück aus dem Boden heraustritt, sondern dass er stattdessen mit einer komatösen Seelenruhe die Bälle weiterverteilt, auf zehn Meter, auf 30 Meter, auf 50 Meter, mit links, mit rechts, völlig gleich, als wohnte Klaus Augenthaler in seinem Schuh.
Und, drittens, die Taktik. Die italienische Fünferkette immer wieder von außen anzulaufen, und dafür zwei Leute abzustellen, war mutig und hat sogar mit zwei guten Fußballern funktioniert. Man (ich) hätte sich (hätte mir) da durchaus auch andere Akteure vorstellen können (Es gibt noch Leute, die denken an Dich, Marcel Schmelzer), aber es hat ja auch so geklappt, also lassen wir das kritteln.
Und wenn das nächste Spiel nicht gegen Frankreich stattfindet, werde ich mir heute Abend vor Wut einen Weisheitszahn ausgebissen haben.
Island vor, noch ein Tor! Oder, um es mit den zum Zwecke des Supports abgeordneten Jungpionieren bei der WM ’74 zu sagen: 1, 2, 3 FUSSBALL!!!
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