Balotelli in aller Munde. Als müssten die Feuilletonisten die Hilflosigkeit Holger Badstubers spiegeln, versuchen sie, in semitioschen Schnellschüssen die Jubelpose auszudeuten; ein paar unsortierte Anmerkungen.

Balotelli gehört zur Gattung der Nichtjubler. Für gewöhnlich dreht er einfach ab, wenn er ein Tor geschossen hat, er freut sich nicht besonders darüber. „Wenn ich treffe, juble ich nicht, denn das ist meine Arbeit“, sagt er. „Wenn ein Briefträger die Post zustellt, soll er dann das Jubeln anfangen?“

Das ist eine seltene Einstellung. Heutzutage erwartet man von einem Stürmer beinah, dass er sich nach einem Treffer aufführt wie ein Teenager auf einem Justin Bieber-Konzert. Es gibt nur wenige berühmte Stürmer in den letzten Jahren, die minimalistisch gejubelt haben. Aktuell sind Mario Gomez und Zlatan Ibrahimovic zwei derjenigen, die wenig bis gar nicht ausflippen; ein anderer ist Thierry Henry, der das Jubeln zu einer Kunstform gemacht hat und zwei Figuren in seinem Repertoire hatte, die auf lange Zeit mit seinem Namen verbunden bleiben werden: der gesenkte Blick mit der Hand am Ohr und das inzwischen Denkmal gewordene auf den Knien zur Eckfahne rutschen.

Balotelli am nächsten kommt allerdings ein anderer Franzose, Eric Cantona. Der stand nach Toren häufig, die Arme leicht nach hinten genommen, mit breiter Brust und den Kopf zur Seite gedreht, wie eingefroren da, um die Huldigungen seiner Mitspieler entgegenzunehmen.

Ausdeutungen des Balotelli-Jubels konnte man in der Süddeutschen, der Welt und der taz lesen. Keiner der Exegeten ist auf Cantona gekommen, um Balotelli einzuordnen. Das ist nicht verwunderlich, denn sie haben alle drei etwas anderes im Blick: dass Balotelli schwarz ist. Dass er so gejubelt hat, ist ihnen immer auch Zeichen seines Schwarz-Seins.

Fangen wir mit dem am wenigsten ärgerlichen an: Der andernorts brillante Georg Seeßlen beginnt seinen Artikel mit einigen richtigen, mir allerdings ein wenig zu überdrehten Beobachtungen („Da steht ein Held, zweifellos“). Er betont auch richtigerweise die Individualität, die der Balotelli-Jubel transportiert, dreht sich dann aber ganz unvermittelt um 180°. Statt die Eigenart des Jubels herauszuarbeiten, zeichnet Seeßlen in sechs kurzen Sätzen einen Leidensweg Balotellis voller rassistischer Schmähungen, eine Art Basisbiografie, die als Blaupause für jeden erfolgreichen Einwanderer verwendet werden kann. Und dann:

Er hat das Trikot von sich geworfen, das ihn zur Nummer machte und ihn für eine Nation vereinnahmt, in der es eine große Anzahl von Menschen gibt, die einen Menschen schwarzer Hautfarbe verachten.

Das verwundert dann doch, denn es ist weiß Gott nicht anzunehmen, dass Balotelli das hat ausdrücken wollen. Lange Zeit erzählte der nämlich, dass der glücklichste Tag seines Lebens sein 18. Geburtstag gewesen sei, weil es der Tag war, an dem er die italienische Staatsbürgerschaft erhalten habe. Seeßlen übersieht dabei, dass Balotelli sich immer wieder und immer offensiv zu seinem Italienisch-Sein bekannt hat; für seine These der Unbeugsamkeit gegenüber Italien setzt er sich mit einer Leichtigkeit darüber hinweg, die Balotellis Haltung vollständig konterkariert. Da aber Balotelli farbig ist, muss man seinen bisher größten Triumph auch so ausdeuten.

Ähnlich wie Seeßlen geht Ulf Poschart in der Welt mit dem Jubel um. Balotelli habe sich in ein „Kriegerdenkmal“ verwandelt, schreibt er, und dann:

Mario Balotelli hat mit der Welt eine Rechnung offen, und er lässt sie das jede Sekunde wissen. Seine Frisur ist eine Kriegserklärung und die körperliche Art, mit der er Verteidiger an den Rand des Wahnsinns quält und die giftige Entschlossenheit, mit der er seine Chancen nutzt, sind Teil eines Willens und Ehrgeizes, der sich nicht für die Kategorien bürgerlichen Anstands und europäischer Manieren interessiert.

Ich weiß nicht, wie viele Spiele mit Balotelli Poschart die letzten Jahre über gesehen hat, es können nicht sehr viele gewesen sein. Das Spiel gegen Spanien muss er beispielsweise verpasst oder verdrängt haben, als Balotelli alleine auf dem Weg zum Tor in sein altes Phlegma fiel und sich von Ramos abfangen ließ; aber vielleicht meint er auch mit „giftiger Entschlossenheit“ jene berühmte Szene gegen LA Galaxy, kann ja sein. Balotelli ist ein Spieler, der, wenn die Mannschaft gut spielt, herausragend sein kann; wenn seine Mannschaft aber unter ihren Möglichkeiten bleibt, sich gerne komplett aus dem Spielgeschehen verabschiedet. Er ist auch kein übertrieben körperlicher Spieler, sondern – in bester italienischer Tradition übrigens – ein Intrigant am Ball, der (wenns gut läuft) die kleinen Lücken sucht und findet, einer, der sich seine Chancen nicht erkämpft, sondern wahlweise erspielt oder erlauert. Aber sorum passt das halt nicht zu Poscharts Erzählung vom genialen Wilden, der dem saturierten Europa seine Grenzen aufzeigt. Next exit Exotismus.

Den mit Abstand wirrsten Text zum Thema hat Bernd Graff in die Süddeutsche hineintheoretisiert. Balotellis Pose sei „Urzeit“, sagt Graff, warum, sagt er nicht. Man finde in der Kunstgeschichte den „scheinbar freudlosen Sieger“ des öfteren, schreibt Graff, zum Beispiel bei Breker, aber das schreibt er nicht, das wäre auch ein wenig viel des Guten. Stattdessen kommt er mit drei Beispielen, alle aus Filmen der letzten 15 Jahre, und also „eher Comic und Computerspiel“ entliehen. Beides gängige Formen, in denen sich archaische Kulturen auszudrücken pflegen. Was auch immer Graff uns sagen will, wahrscheinlich, dass er sich mit Michelangelo auskennt, was bleibt, ist: Balotelli ist allein in seinem „traurigen Triumph“, der seelenlos ist und salzsäulenhaft.

Fassen wir zusammen: Seeßlen akzuentiert Balotelli als Farbigen, der Widerstand leistet; Poschart ihn als Wilden, der die Grenzen sprengt; Graff ihn als in der Urzeit Erstarrten. Keiner schafft es, sich von der Hautfarbe Balotellis zu lösen, bei allen bleibt er der Schwarze, der sich nur im Verhältnis zu seiner Hautfarbe deuten lässt.

Keine Pointe.