Es ist alles die Schuld von Raimund Wilheim. Raimund Wilheim schrieb für die Fußballwoche, die Zeitung über ‚den gesamten Berliner Fußball‘, von der Kreisklasse bis zur Hertha. Von der Aufmachung her erinnert das Blatt an die Zweite Hand oder an die Neunziger. Gekauft hätte ich mir das wahrscheinlich so schnell nicht, aber Steffi hat irgendwann mal davon erzählt, und was Steffi empfiehlt, das lohnt sich in der Regel, deswegen ist es auch ein bisschen ihre Schuld.

Die meisten FuWo-Berichte sind liebenswert angestaubt, voller Floskeln und abgestandener Sätze, voller ‚im Visier haben‘, ‚Zittersiegen‘ und ‚Eigengewächsen‘. Der ganze Stil atmet etwas ernsthaftes und provinzielles. Ich mag das, es ist auf eine unaufgeregte Weise konservativ, es passt sehr schön zum Amateurfußball, als Gegenmodell zur aufgeregten, überdrehten Stimmung in der Profibetriebs-Berichterstattung.

Ich hätte das wohl nie mögen gelernt ohne Raimund Wilheim. Raimund Wilheim ist einer der bemerkenswertesten Fußballjournalisten, die ich kenne. Seine Artikel haben überhaupt nichts angestaubtes, im Gegenteil: mit dem bissigen Witz des Weisen und einem Gespür für ungewöhnliche, aber eingängige Metaphern berichtete er von den Niederungen des Amateurfußballs, viel über TeBe zum Beispiel, über die Oberliga. Raimund Wilheim muss man lesen, davon war ich ab dem ersten Satz überzeugt. Und wenn man sich die Zeitung schon einmal gekauft hat, kann man sich den Rest ja auch mal ansehen. Dass ich Zugang zum Berliner Fußball bekommen habe, dass ich mich erst für TeBe, für den BAK, später für Hermsdorf, Stern 1900 und Club Italia interessiert habe, das war die Schuld von Raimund Wilheim.

Jetzt bin ich hier in Tempelhof auf dem Weg ins Friedrich-Ebert-Stadion. Da spielt Viktoria 89, die wollen ‚dritte Kraft in Berlin‘ werden, das wollen ja viele, ab der Landesliga fast alle. Horst Bläsig schreibt in der FuWo, dafür seien die Voraussetzungen günstig, aus vier Gründen: dort gäbe es ‚Tradition, einen guten Namen, außergewöhnliche Farben und eine zentrale, verkehrsgünstige Lage‘. Ja, gut. Solche Argumente kennt man ja eher von Sparkassenkreditgesprächen für die Wurstbude.

Türkiyemspor ist zu Gast, die waren ja auch mal zweite Kraft, damals in Westberlin. Irgendwann Ende der 80er, das ist schon was her. Letztes Jahr ist die Mannschaft abgestürzt, finanziell ist es schwierig, die Regionalliga ruiniert regelmäßig ihre Mannschaften. Die Mannschaft ist filettiert worden wie die Weihnachtsgans, jetzt braucht es also den Neuanfang, wie man das immer so nennt. Früher sind immer ein paar Tausend zu Türkiyemspor-Spielen gekommen, heute sind insgesamt 384 zahlende Gäste da, recht viel mehr wären wohl auch nicht reingegangen: das Friedrich-Ebert-Stadion sieht so aus wie das, was Gerhard Schröder von der Sozialdemokratie übrig gelassen hat.

Türkiyemspor versucht es mit Kombinationen, aber niemand hat ihnen gesagt, wo das Tor steht. Viktoria haut den Ball lieber hoch nach vorne auf Levkanski, der ist drei Meter groß und genau so breit. Nach einem Standard haut Sebastian Bönig den Ball ins Tor, das war in der achten Minute. Genau, der Sebastian Bönig, der macht hier nochmal auf Major League. Von da an ist das Spiel gelaufen, hinten schreit Christopher Gäng, der Torwart von Türkiyemspor, bis die Stimme bricht. Es hilft nichts, und nach 30 Minuten ist er heiser. Von da an hört man vom Nebenplatz immer mal wieder Croatia jubeln.

Da steht es schon 2-0, auf den Rängen sprechen die ersten vom Aufstieg. Hier, Stehtribüne für fünf Euro, mischen sich westberliner Proleten mit älteren Herren, Omas mit ihren Enkeln und Spieler der Jugendmannschaften. Es gibt eine Hüpfburg und Bier für zwei Euro. Das hat etwas von einem Straßenfest. Hin und wieder spielt man „Rama Lama Ding Dong“ ein, das Torlied bei Viktoria 89, und in der Halbzeit den Halbzeitsong von den Puhdys, der geht so:

Halbzeit, es ist soweit
Halbzeit, ich bin bereit
Erste Hälfte ade – du bist Vergangenheit
Halbzeit es ist soweit
Halbzeit die Party steigt
Zweite Hälfte hallo – ich bin für dich gefeit.

Den Rest der Zeit sitze ich in Schockstarre neben einer Großmutter, die sieben Stück Kuchen isst und dabei immer wieder vor sich hinkichert. Wenn ich alt bin, will ich auch so werden. Oder wie Raimund Wilheim.