Die Welle der Fan-Gewalt
Von frederic am 31 Okt 2011 | Tresenmonologe
Es ist eine bittere Praxis, Polizeistatistiken weiterzuverbreiten, als wäre es objektives, selbsterklärendes Material. Es gibt Gründe, misstrauisch zu sein, denn natürlich sind diese Statistiken für die Polizei gleichzeitig Arbeitsnachweis und Arbeitsauftrag. Es ist nicht verwerflich, dass die Polizei ihre Interessen vertritt, man sollte ihr nur nicht aufs Wort glauben. Aber obwohl man über die Schwierigkeiten (sagen wir: der PKS) weiß, liest sich die Presse heute so:
Die Zahl gewalttätiger Fans bei Spielen der Bundesliga und der 2. Bundesliga stieg in den vergangenen zwölf Jahren von 6800 auf 9700. Mit 846 Verletzten wurde in der Saison 2010/11 laut der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze der Polizei ein neuer Höchststand erreicht. Die Behörden leiteten 5818 Strafverfahren ein, doppelt so viele wie noch in der Spielzeit 1999/2000.
Das hat der Focus geschrieben, auch das Handelsblatt. Es klingt erstmal total objektiv, bis dann – flankiert durch die Zahlen – H96-Chef Martin Kind im Mindener Tagblatt von einem „Ultras-Problem“ spricht.
Christoph Biermann und Ron Ulrich haben in der aktuellen 11Freunde eine fantastische Reportage geschrieben über „Das Ende der Eskalation“. Allein für dieses Stück lohnt sich ein Jahresabonnement. Auf fast zehn Seiten nehmen sie Zahlen auseinander, vergleichen, suchen Erklärungen.
Eine dieser Erklärungen ist: die WM 2006. Tatsächlich stieg in deren Vorfeld die Anzahl der eingesetzten Polizisten dramatisch an, weil man sie auf ihre Einsätze während des Sommermärchens vorbereiten musste. Zeitgleich suchte der Bundesgrenzschutz (heute: Bundespolizei) neue Betätigungsfelder, nachdem die Grenzen offen waren: zum Beispiel die Kontrolle umherreisende Fußballfans. Was tatsächlich als Schnupperkurs und Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gedacht worden sein könnte, zog bald das Lüchow-Dannenberg-Syndrom nach sich: mehr Polizei bedeutet intensivere Beobachtung bedeutet mehr Anzeigen bedeutet Anstieg der eingeleiteten Strafverfahren um ein Drittel.
Das ist ein mediales Problem: Denn wenn ein ein statistischer Anstieg zu dem Ruf nach „mehr Polizei“ führt, wird dieses mehr an Polizei tatsächlich einen weiteren statistischen Anstieg nach sich ziehen, und dann braucht man: noch mehr Polizei, woraufhin ein Jahr später noch mehr Strafverfahren eingeleitet werden. Außerdem kommen dann selbstverständlich Forderungen nach einer Verschärfung des Strafrechts: beispielsweise des Jugendstrafrechts, unter das einige der Ultras im Fall einer Straftat fallen dürften. Die Politik der starken Hand wird dazu führen, dass staatliche Autoritäten in immer stärkerem Ausmaß zu bestimmen versuchen, wie Subkulturen sich zu verhalten haben. Wohin die Reise geht, sagt beispielsweise der Präsident der Bundesbereitschaftspolizei, Friedrich Eichele: „Politik und Gesellschaft sollten auf die Fanszene einwirken und erreichen, dass sie Pyrotechnik nicht länger als Teil ihrer Kultur betrachtet.“ Dabei muss kein direkter Zusammenhang zwischen Pyrotechnik und Kriminalität bestehen, außer, man kriminalisiert die Pyrotechnik.
Christoph Biermann und Ron Ulrich stellen als gelungenes Paradebeispiel die Hannoveraner Lösung vor, wo Detlev Kofbinger die Betreuung der Probelmfans übernimmt. Seine Devise lässt sich so zusammenfassen: Dialog, Vertrauen, Verständnis. Eine Strategie, die auch auf dem Berliner Myfest jedes Jahr weiter verfeinert wird: dort hat man den jährlichen Krawallen ein Konzept entegegengesetzt, das die Bewohner aktiv mit einbindet, und damit gute Ergebnisse erzielt.
Es gibt diese beiden widerstreitenden Konzepte: Konfliktmanagement versus Polizeipanzer. Die Diskussion geht momentan in Richtung Polizeipanzer. Damit folgt sie einer Denkrichtung, der in den USA seit den 80ern schwelt, und der ein Merkmal des postkeynesianischen Neoliberalismus ist. Der postkeynesianische neoliberale Staat zeichnet sich (laut Loïc Wacquant durch drei Merkmale aus: Er hat sich seines ökonomischen Arms entledigt, das heißt, die öffentlichen Güter in Waren verwandelt und prekäre Arbeit gefördert. Er entzieht die soziale Brust, das heißt, soziale Sicherungssysteme werden abgebaut. Und er baut auf die strafende Faust, das bedeutet die Ausweitung des Strafverfolgungsapparats. In den Kurven wird man überproportional viele jener Mitglieder der „überzähligen und störenden Fraktionen der Arbeiterklasse“ (Wacquant) finden, also Leute, die von Konsequenzen dieser Politik am meisten betroffen sind. Es gibt eine soziale Dimension des Problems, die vollständig unterschlagen wird.
Entsprechend: Wenn jetzt nach Lösungen gefragt wird, lauten die Antworten: Stadionverbot, Verbot der Pyrotechnik, oder ganz differenziert, „Schluss, Ende, Aus“ Polizeigewerkschaftschef Bernhard Witthaut. Zwischendrin mahnen einige Fanprojektbetreuer, bitte keine Gießkannenmethoden anzuwenden, das ist aber auch schon alles an Kritik.
Gerd Dembowski hat das Problem einmal von der anderen Seite angepackt. Im Interview mit der Tagesschau sagte er:
Mehr und mehr wird Fußball ökonomisiert, die identitätsstiftende Funktion der Vereine geht verloren. Die Fans merken natürlich auch, dass die Knappen bei Schalke nur noch eine Marke sind. Das führt zu einer Entfremdung vom Verein.
Und, kurz zuvor:
Die Vereine müssen ihr gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein ausbauen.
Was aber jetzt in der Berichterstattung passiert, ist das genaue Gegenteil: Man lässt die Polzei definieren, was das Problem ist, und auch, wie es zu lösen sei. „Kurzsichtig“ ist das netteste Wort, was mir dazu einfällt.
[Update: Schwatzgelb hat den Stadionbesuch auch überlebt.]